Seite - 1125 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 1125 -
Text der Seite - 1125 -
Der Mann ohne Eigenschaften im zeitgenössischen literarischen Feld 1125
zuletzt ein Potenzial fĂŒr geistige und sonstige Freiheit erkennt. Es ist ihm â
der in der modernen UnĂŒbersichtlichkeit nicht ânur eine Verfallserscheinungâ
sieht, wie er an anderer Stelle ausfĂŒhrt â als ErzĂ€hler keineswegs darum zu
tun, seinen Lesern das GefĂŒhl zu vermitteln, âirgendwie im Chaos geborgenâ
(MoE 650) zu sein, sondern sie im Gegenteil âzu einer positiven Bewertung
dieses chaotischen Zustandsâ zu bringen,77 wĂ€hrend fĂŒr Zeitgenossen wie
Hofmannsthal âdie Drohung des Chaos an die geordnete Weltâ entweder
âdichterisch oder religiösâ ĂŒberwunden werden muss.78
Wie deutlich geworden sein sollte, hat Musil sich in seinen Essays nach
dem Ersten Weltkrieg intensiv mit anthropologischen Theoremen seiner Zeit-
genossen auseinandergesetzt und sie kritisch observiert. In seinem parallel
dazu entstehenden Roman Der Mann ohne Eigenschaften entwirft er nun einen
praxeologischen Reflexionsraum, in dem er das damalige anthropologische
Denken in actu vor- und dabei ad absurdum fĂŒhrt. Mithilfe seiner ânegativenâ
literarischen Anthropologie der âmenschlichen Gestaltlosigkeitâ betreibt Mu-
sils Narration eine (mögliche) Ausgestaltung dessen, was aus verschiedenen
zeitgenössischen EntwĂŒrfen âpolitischer Anthropologieâ sozial und historisch
konkret resultieren kann. In Helmut Lethens Worten : Es geht ihm nicht da-
rum, âvon ihrem Wortlaut gereinigte Denkmodelle ins Etui der Philosophiege-
schichte einzuschlieĂenâ, sondern er entwirft erzĂ€hlerisch âMischrĂ€ume hete-
rogener Diskurseâ, die âin unterschiedliche Archive fĂŒhrenâ.79 DarĂŒber hinaus
erscheinen sie durch ihre narrative Situierung in âlebensweltlichenâ Konstellati-
onen praxeologisch angereichert, so dass die theoretischen Modelle gleichsam
einer praktischen ĂberprĂŒfung unterzogen werden können. Darin besteht die
poetische Funktion der von Musil betriebenen Inskription zeitgenössischer
Theorie in den âintellektuellen Romanâ. SchlieĂlich gelangt er zum Ergebnis,
dass der âgestaltloseâ Mensch einer âintelligentenâ gesellschaftlichen Organi-
sationsstruktur bedarf, um sein BedĂŒrfnis nach Liebe wie seine stets latente
Gewaltbereitschaft in ein produktives VerhÀltnis zueinander wie zu seinem
Handeln zu bringen.
Nach dem vorstehend entwickelten Modell generiert Musils Literaturpo-
litik im kulturellen und literarischen Feld seine anthropologischen und ge-
sellschaftspolitischen Stellungnahmen im Feld der Macht. Indem er mit allen
etablierten Positionen des zeitgenössischen Denkens bricht bzw. dies zumin-
dest suggeriert, konstituiert er sich selbst als prononcierten Vertreter einer in-
77 So in den Fragmenten zu Der deutsche Mensch als Symptom (GW 8, 1363).
78 So Hofmannsthal : Wiener Brief [III], S. 287 f.
79 Lethen : Anleitung zur Schlaflosigkeit, S. 92.
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208