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Teil III: Erzeugungsformel des Werks und Selbstobjektivierung des
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willen, um der Bedeutung der Geschichte willen, um der Bedeutung willenâ
(MoE 1940). Sein eigenes ErzÀhlprojekt ist dieser Typologie zufolge auf der
dritten Stufe angesiedelt ; er zielt auf die Offenlegung der autonom gesetzten,
weil keiner âGeschichteâ mehr dienenden âBedeutungâ und legt diese Hal-
tung auch seinem Protagonisten Ulrich in einem metafiktionalen GesprÀch
mit Walter in den Mund : Es gehe weniger darum zu zeigen, âwas geschĂ€heâ,
als um die âBedeutung, die man ihm gĂ€beâ, die âAbsicht, die man mit ihm
verbĂ€ndeâ, das âSystem, das das einzelne Geschehnis umfingeâ (MoE 364).
Nicht die bloĂe âFabelâ, sondern nur der ungleich schwerer zu ergrĂŒndende
âGeist der Geschehnisseâ sei ein wĂŒrdiges Darstellungsziel, nicht die einfalls-
lose âVerteilung des schon vorhandenenâ âLebensgehaltsâ, sondern eben die
innovative âErschlieĂungâ eines âneuenâ (MoE 364) â wobei Musil es in sei-
nen Notizen zu einem geplanten Nachwort bzw. Zwischenvorwort ĂŒberdies
in guter Tradition kĂŒnstlerischer Avantgarde als âEins [s]einer Prinzipienâ be-
zeichnet, dass es ânicht darauf an[kommt], was, sondern wie man darstelltâ
(MoE 1941, nach M II/1/60).
Inwiefern ist dieses ErzÀhlprogramm nun tatsÀchlich Ausdruck von Mu-
sils spezifischer Position im literarischen Feld seiner Zeit und Gesellschaft ?
Zur Beantwortung der Frage ist eine VergegenwÀrtigung seines VerhÀltnisses
zu den fĂŒhrenden literarischen Strömungen der spĂ€ten zwanziger und frĂŒhen
dreiĂiger Jahre nötig.111 An erster Stelle wĂ€re etwa die Neue Sachlichkeit zu
nennen. Mit kritischem Unterton meint Musil in seinem Essay Literat und
Literatur. Randbemerkungen dazu (1931), dass realistische Darstellungsverfah-
ren wie die âobjektive Daseinsreportageâ der Neuen Sachlichkeit âdas gleicheâ
vernachlĂ€ssigen, âwas schon die subjektive Erlebnisreportage des Impressio-
nismus auĂer acht gelassen hatâ, nĂ€mlich die Einsicht, âdaĂ es keinen Tatsa-
chenbericht gibt, der nicht ein geistiges System voraussetzt, mit dessen Hilfe
der Bericht aus den Tatsachen âgeschöpftâ wirdâ (GW 8, 1210). Das erkennt-
niskonstitutive âgeistige Systemâ gelte es aber gerade erzĂ€hlerisch offenzule-
gen112, wie Musil in Distinktion von der Neuen Sachlichkeit und dem Àlteren
Impressionismus postuliert. Daraus folgert er im essayistischen Fragment Die
Krisis des Romans (1931) : âUnser VerhĂ€ltnis zu diesen Erscheinungen ist er-
klÀrend geworden, und bloà eine neue Variation zu erzÀhlen, kann uns heute
111 Vgl. dazu auch die ausfĂŒhrlichere Rekonstruktion in Wolf : Zwischen Diesseitsglauben und
Weltabgewandtheit, S. 194â229 ; hinsichtlich der Neuen Sachlichkeit dagegen Becker : Von der
âTrunksucht am TatsĂ€chlichenâ, S. 140â152.
112 Damit ist keineswegs bloĂ âdie intellektuelle Reflexion des Dargestellten gemeintâ, wie Becker
ebd., S. 148, Anm. 24, glaubt, die Musil damit an die Neue Sachlichkeit annÀhert, vielmehr die
gnoseologische Basis der Darstellung selbst.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208