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Der Mann ohne Eigenschaften im zeitgenössischen literarischen Feld 1137
gilt ihm also nicht deshalb als âunĂŒbertreffliche Menschenschilderungâ, weil
Döblin sich darin etwa besonders treu an die erzÀhlerische Rekapitulation ge-
sellschaftlicher Tatsachen und medientechnischer Errungenschaften hielte,
sondern im Gegenteil, weil er sie gerade in entscheidender Weise hinter sich
lĂ€sst ; er partizipiert demnach auch an der von Musil angedeuteten âzweiten
groĂen Quelle der Dichtungâ und bezieht ihm zufolge aus dieser doppelten
StoĂrichtung seine Einzigartigkeit.
Musils eigene Differenzierung des neusachlichen ObjektivitÀtspostulats, mit
der er erklĂ€rtermaĂen zeigen wollte, wie die Zeit âsich in einem unmaĂgeb-
lichen Menschen spiegeltâ (MoE 1817), war demgegenĂŒber eine erkenntnis-
kritische Konsequenz seines thematischen Interesses am âinneren Menschenâ
und trug der seit Dilthey und Nietzsche virulenten Kritik am positivistisch-
naturwissenschaftlichen Denken Rechnung. Zur Erlangung anthropolo-
gischer Erkenntnis muss demnach das âIchâ, muss die âSeeleâ nicht allein als
Gegenstand, sondern auch als zentrales Erkenntnisinstrument mitberĂŒcksich-
tigt werden118, was weitreichende Konsequenzen fĂŒr Musils ErzĂ€hlkonzept
impliziert : Die von Döblin 1913 programmatisch geforderte âEntselbstung,
EntĂ€uĂerung des Autors [bzw. ErzĂ€hlers, N. C. W.], Depersonationâ, ja die
Befreiung vom âMenschenâ119, die dann im Roman Berlin Alexanderplatz auf
beeindruckende Weise praktiziert worden ist120, hĂ€lt Musil offenbar nicht fĂŒr
einen epistemologisch adÀquaten und damit zukunftsweisenden Weg moder-
ner Dichtung, zumindest nicht fĂŒr den seinen. Er spricht hingegen gerade der
individualisierenden â aber nicht notwendig subjektivierenden â Literatur ein
privilegiertes Erkenntnisvermögen jenseits des rein begrifflichen und verall-
fest, âdaĂ gegenwĂ€rtig wieder ein solcher Irrtum vordrĂ€ngt, der dem alten sehr Ă€hnlich ist,
obwohl er an die Stelle der subjektiven Erlebnisreportage des Impressionismus den Begriff der
unpersönlichen, vermeintlich objektiven Reportage setzt, eine literarische Situation, die mit der
Entwicklung des Zeitungswesens und dem ideologischen SchwÀchezustand unserer Literatur
zusammenhĂ€ngt.â (M VI/3/63)
118 So hÀlt er 1922 im Essay Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste fest :
â[E]s geht der Gewohnheitsgang unsrer Gedanken unter Ausschaltung des Ich von Gedanke
zu Gedanke und Tatsache zu Tatsache ; wir denken und handeln nicht ĂŒber unser Ich. Darin liegt
ja das Wesen unserer ObjektivitÀt, sie verbindet die Dinge untereinander, und selbst wo sie uns
zu ihnen in Beziehung setzt oder â wie in der Psychologie â uns selbst zum Gegenstand hat, tut
sie es unter AusschluĂ der Persönlichkeit. Es gibt die ObjektivitĂ€t gewissermaĂen das Innerli-
che an den Dingen preis, das AllgemeingĂŒltige ist unpersönlich [âŠ]. ObjektivitĂ€t stiftet daher
keine menschliche Ordnung, sondern nur eine sachliche.â (GW 8, 1092)
119 Döblin : An Romanautoren und ihre Kritiker, S. 123.
120 Vgl. etwa Scherpe : Von der erzÀhlten Stadt zur StadterzÀhlung.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208