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Der Mann ohne Eigenschaften im zeitgenössischen literarischen Feld 1143
ĂŒberwinden gedenkt145, sondern ebenso eine analytische Auseinandersetzung
mit dem menschlichen âGeistâ, den der Expressionismus und die Neue Sach-
lichkeit vernachlĂ€ssige. Die noch von Aristoteles herrĂŒhrende, altehrwĂŒrdige
Verpflichtung der Dichtkunst auf den âhandelnden Menschenâ146 wird durch
eine besondere Fokussierung auf dessen Denken ersetzt ; entsprechend heiĂt
es im Roman programmatisch : âEs ist leider in der schönen Literatur nichts
so schwer wiederzugeben wie ein denkender Menschâ (MoE 111).147 Musil
weiĂ, dass die besondere Herausforderung dieser selbst gestellten Aufgabe
unter anderem in einer notwendigen EnttÀuschung des (nicht nur damals)
herrschenden literarischen Erwartungshorizonts besteht, wie er in der fallen-
gelassenen Vorrede zum Zweiten Buch des Mann ohne Eigenschaften in direkter
Anrede an seine Leser bemerkt :
Sie Leser sind gewohnt zu verlangen, daà man Ihnen vom Leben erzÀhle und nicht
vom Widerschein des Lebens in den Köpfen der Literatur und der Menschen. Das ist
aber mit Sicherheit nur soweit berechtigt, als dieser Widerschein bloĂ ein verarmter,
konventionell gewordener Abzug des Lebens ist. Ich suche Ihnen Original zu bieten,
Sie mĂŒssen also auch Ihr Vorurteil suspendieren. (M II/1/58 ; vgl. MoE 1937)
Mit der Infragestellung gÀngiger Vorurteile macht man sich zumindest beim
breiteren Publikum keine Freunde. Das Projekt einer erzÀhlerischen Dar-
stellung des âdenkenden Menschenâ, die Musil zufolge von der Literatur vor
ihm noch kaum in Angriff genommen, geschweige denn bewÀltigt wurde,
begrĂŒndet neben der Technik der erlebten Rede auch seinen erzĂ€hlerischen
Essayismus und mit ihm die tragende Rolle reflexiver Passagen innerhalb der
Narration. In seinen Notizen aus den dreiĂiger Jahren zu einem geplanten
Nachwort bzw. Zwischenvorwort gibt er gegen den antizipierten Einwand,
145 Auch im Essay Symptomen-Theater I findet sich die fĂŒr Musil charakteristische Gedankenfigur
der doppelten Negation ; nicht besser als der Expressionismus sei nÀmlich der Impressionismus
gewesen : âEs ist allerdings nicht zu ĂŒbersehen, daĂ darauf [auf âdas GefĂŒhlâ, N. C. W.] auch der
Impressionismus schon die Theorie der Kunst baute, welcher forderte, daĂ der Dichter nicht
denken, sondern fĂŒhlen und mit der Umgehung zerlegterer geistiger TĂ€tigkeit unmittelbar zu
einem common sense des GefĂŒhls sprechen mĂŒsse, eine Art Speisung des Genies aus dem Ge-
meingeiste und des Gemeingeistes aus ihm nach der dunklen Weise von Nahrungsklistieren !â
(GW 8, 1097)
146 Vgl. Aristoteles : Poetik (Kap. 2), S. 6 f. (1448a).
147 Vgl. auch folgende ErlĂ€uterung : âMan kann sozusagen, wenn ein Mensch denkt, nicht den
Moment zwischen dem Persönlichen und dem Unpersönlichen erwischen, und darum ist of-
fenbar das Denken eine solche Verlegenheit fĂŒr die Schriftsteller, daĂ sie es gern vermeiden.â
(MoE 112)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208