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Der Mann ohne Eigenschaften im zeitgenössischen literarischen Feld 1145
losophischer Streit oder ich mĂŒĂte persönlich angreifen.â (GW 7, 850, nach
M III/5/33) Die kĂŒnstlerische QualitĂ€t bleibe auf unentwirrbare Weise mit
dem geistigen Gehalt verquickt, der sich bei Broch als romanexternes Inter-
pretament prĂ€sentiert : âIst ein Gedankenroman schlecht, wenn seine Gedan-
ken falsch sind ? Und von welchem Grad an ? Ist er schlecht, wenn die Form
MĂ€ngel hat ?â (GW 7, 850, nach M III/5/33) Mit seinem selbstquĂ€lerischen
Argwohn insbesondere gegenĂŒber vorderhand verwandten poetischen Kon-
zeptionen bestÀtigt Musil unwillentlich die Beobachtung Bourdieus, wonach
âdie Gefahr fĂŒr die kĂŒnstlerische IdentitĂ€t dann [am gröĂten ist], wenn sie sich
in der Form des Zusammentreffens mit einem Autor einstellt, der im Feld eine
scheinbar sehr benachbarte Position einnimmtâ154.
Die zweifelsohne existierenden konzeptionellen Differenzen sind deshalb
nicht zu vernachlÀssigen, sondern haben noch weiter reichende Implikatio-
nen. Wie im Verlauf der vorliegenden AusfĂŒhrungen deutlich geworden sein
dĂŒrfte, bedingte das vom Anbeginn seines Schaffens bestehende Interesse
Musils am âinneren Menschenâ keineswegs ein Desinteresse an sozialen Be-
langen, wodurch er sich nicht nur von der modernistischen ErzÀhlliteratur
Westeuropas (Proust, Joyce, Woolf, Gide) augenfÀllig unterscheidet.155 Be-
reits Howald hat gezeigt, dass im Mann ohne Eigenschaften gesellschaftliche
Konstellationen und ideologische Spannungen entschieden stÀrker themati-
siert werden als in frĂŒheren Musil-Texten ; besonders anschaulich lĂ€sst sich
seine intensivere âerzĂ€hlerische Korrespondenzanalyseâ des problematischen
VerhÀltnisses von abstrakten Ideologien und konkreten LebensumstÀnden
aber im Vergleich zu Thomas Mann156 und Hermann Broch profilieren.157
Entsprechendes gilt fĂŒr Musils ausdrĂŒcklichen Verzicht auf erzĂ€hlerische Ide-
alisierungen. Ăber weite Strecken insbesondere des Ersten Buchs verhandelt
er den Konflikt zwischen den hochfahrenden âseelischenâ BedĂŒrfnissen seiner
Figuren und den ĂŒberkommenen, unflexiblen und in sich widersprĂŒchlichen
154 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 154.
155 Vgl. etwa Martens : Beobachtungen der Moderne, S. 32 f.
156 Vgl. im Arbeitsheft 31 die Notiz zu den Buddenbrooks : âThomas Mann : Der Realismus in den
Einzelheiten tĂ€uscht darĂŒber, daĂ diese Kaufleute im Ganzen kritiklos idealisiert sind. (Aber
Liebe heiĂt schön machen !)â (Tb 1, 819) Dazu Freese : Musil als Realist, S. 530 : Musils âKritik
in der Dokumentation des Verfalls groĂbĂŒrgerlicher Lebensformâ sei âwesentlich schĂ€rfer als
Thomas Manns aus der âhistorischen Krankheitâ und der dĂ©cadence des 19. Jahrhunderts her-
vorgehende erzĂ€hlerische Ironieâ. Die parenthetische Bemerkung Musils birgt freilich eine ver-
söhnliche Note, wie der Eintrag in das Arbeitsheft 32 bestĂ€tigt : âIch habe mich darĂŒber lustig
gemacht, daĂ die Dichtung das Leben wiederholen solle. Und doch, indem sie es mit Liebe tut,
macht sie es schön.â (Tb 1, 975)
157 Vgl. Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 370â373.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208