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Der Mann ohne Eigenschaften im zeitgenössischen literarischen Feld 1147
deutung des Lebens“. Dabei sucht er allerdings peinlich zu vermeiden, „es mit
den Begriffen und Vorurteilen der Leute aus[zudeuten]“ (Tb 1, 969). Wenn
Musil in seiner literarischen Zeitanalyse bewusst darauf verzichtet, die gän-
gigen Anschauungen „ein wenig verfeinernd wie Thomas Mann“ bloß zu re-
produzieren, wie er in seinen Arbeitsnotizen maliziös zu verstehen gibt, dann
verzichtet er zugleich auf die repräsentative Rolle des anerkannten „Lehrer[s]“
oder des „Philosoph[en]“ der Nation. Und er ist sich über die daraus resultie-
renden Nachteile für seinen Psychohaushalt durchaus im Klaren : „Es liegt mir
fern, den großen Grad von Sicherheit, Ausgeglichenheit und ähnlichem zu
übersehen, den dieses Verfahren [Manns, N. C. W.] gewährt.“ (Tb 1, 969) An-
stelle eines vordringlichen Strebens nach „Sicherheit“ und „Ausgeglichenheit“
konstatiert er an sich selbst wie an seinem Roman denn auch „eine Leiden-
schaft, die im Gebiet der schönen Literatur heute einigermaßen deplaziert ist,
[…] nach Richtigkeit/Genauigkeit“ (MoE 1937).
Die Gefahr des skizzierten Verfahrens besteht in der drohenden Überhand-
nahme des Essayistischen, wie Musil selber weiß.160 Um dem entgegenzu-
wirken, befleißigt er sich – neben der als „Gegengewicht“ konzipierten „Her-
ausarbeitung lebendiger Szenen, phantastischer Leidenschaftlichkeit“ – einer
„ironische[n] Grundhaltung“, die er nicht als „Geste der Überlegenheit“ ver-
standen wissen will, wie er in einer weiteren, wiederum versteckten Spitze ge-
gen Thomas Mann formuliert, sondern als „eine Form des Kampfes“ (GW 7,
941).161 Mit anderen Worten : „Ironie muß etwas Leidendes enthalten. (Sonst
ist sie Besserwisserei.) Feindschaft und Mitgefühl.“ (Tb 1, 973) Bezeichnend ist
noch an diesen späten Überlegungen aus dem Arbeitsheft 32 die prinzipielle
160 Vgl. seinen resignativen Eintrag in das Arbeitsheft 31 vom 9. März 1930 : „Ich mußte gestern
rasch die Korrekturen von 300 Seiten überprüfen und war ganz niedergeschlagen von der
Überladenheit des Romans mit Essayistischem, das zerfließt und nicht haften bleibt.“ (Tb 1,
816) Acht Monate später versichert er Franz Blei im Brief von 13. November 1930 im Gestus
einer Beschwörung, dass der zweite Band des Romans „erzählerischer als der erste wird und
dessen geistige Kongestionen in Gebärden auflöst. Was mir wichtig zu sagen ist, weil ich Angst
habe, daß selbst Sie mir manches, was im ersten Teil halbe Konstruktion ist, als verfehltes Gan-
zes anrechnen könnten.“ (Br 1, 485) Nicht zuletzt an dieser selbstgestellten Aufgabe sollte die
Fertigstellung des Mann ohne Eigenschaften mehr und mehr stocken, ja schließlich scheitern.
161 Dagegen heißt es im Mann ohne Eigenschaften über die ‚Großschriftsteller‘ : „Von den kämpferi-
schen Mitteln des Schreibens machen sie nur Gebrauch, wenn sie ihre Geltung bedroht fühlen ;
in allen übrigen Fällen zeichnet sich ihr Verhalten durch Ausgeglichenheit und Wohlwollen
aus.“ (MoE 431) Vgl. auch Musils Essayfragment Das Gute in der Literatur (1927), worin es zu
Thomas Mann heißt : „Sein Begriff der dichterischen Ironie […] teilt zwischen einem ewigen
Charakter der Dichtung und einer reservatio mentalis (namentlich im Gebrauch). Es nützt
nichts, in einem Winkel des Gesichts ein wenig zu lächeln, wenn man mit vollem Ernst bürger-
lich konservativ ist.“ (M I/6/120)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRÄFTEFELD
- 1. „Versuchsstation des Weltuntergangs“ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. „Zeitfiguren“ 1913/1930 „am gesellschaftlichen Schachbrett“ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) – Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als ‚Antiessayismus‘ : Der Funktionär Tuzzi (489) – Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und ‚Jude‘ 501
- Ein trojanisches Pferd des Militärs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte ‚Eigenschaftlichkeit‘ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist Schmeißer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem „Geiste des Expressionismus“ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte ‚Eigenschaftlichkeit‘, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. „Die falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaft“ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der Geschlechteridentitäten : Die „Träger des Zeit- wandels“ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen „Zwangsherrschaft“ zur wissenschaftlichen Eheführung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche Verhältnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der ‚schönen Seele‘ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als „Lustselbstmord“ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frühes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe à la hausse, platonische „Begegnung zweier Berggipfel“ : Diotima und Arnheim 908
- Die „letzte Liebesgeschichte“ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne Männerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, Preußen gegen Österreich 1005
- Der Intellektuelle und der Großschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte „Exponenten des Zeitgeistes“ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- Bildungsbürger contra Kleinbürger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- Bildungsbürger contra Proletarier : Ulrich und Schmeißer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- Sekundärliteratur zu Musil 1193
- Register 1208