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und Romanheld in der Moderne â Musils indirekte Selbstanalyse
methode beansprucht, âdas VerhĂ€ltnis zu beschreiben, das zwischen den ein-
zelnen Akteuren, also ihrem Habitus, und den KrÀften des Feldes besteht und
sich in einem Karrierelauf und in einem Werk objektiviertâ5, dann folgt sie kei-
neswegs jenem erkenntnistheoretisch obsoleten âInteresse an der Sinngebung,
am ErklÀren, am Auffinden einer zugleich retrospektiven und prospektiven
Logik, einer Konsistenz und Konstanz, um derentwillen intelligible Relationen
wie die von Wirkung und Ursache zwischen aufeinanderfolgenden ZustÀnden
hergestellt werden, die damit zu Etappen einer notwendigen Entwicklung er-
hoben sindâ6. Das Ziel der Sozioanalyse besteht nicht im Aufweis einer gleich-
sam geschichtsphilosophischen Notwendigkeit, sondern im Gegenteil in der
KlĂ€rung der âFrage nach den sozialen Mechanismen, die dieser gewöhnlichen
Erfahrung des Lebens als Einheit und TotalitÀt den Boden bereiten und die
Rechtfertigung liefernâ7.
So stellt die â im deutschsprachigen Raum spĂ€testens seit Goethe zu be-
obachtende â âNeigungâ von Schriftstellern, âsich zum Ideologen des eigenen
Lebens zu machenâ8, einen geeigneten Gegenstand möglicher sozioanaly-
tischer Untersuchungen dar. Von besonderem Interesse sind aber auch jene
selteneren FĂ€lle, in denen Autoren die eigenen Defizite und Ideologisierungen
in gewisser, jeweils zu bestimmender Weise literarisch zu objektivieren ver-
suchen. Wie Bourdieu am Beispiel Flauberts gezeigt hat, ist dieser als Autor
der Ăducation sentimentale âgenau derjenige, der die âinaktive Leidenschaftââ
seines nach dem eigenen Vorbild geformten Helden FrĂ©dĂ©ric âin ein kĂŒnst-
lerisches Projekt umzusetzen vermochteâ9, das er selber mit aktiver Leiden-
schaft verfolgte. An Flaubert lasse sich veranschaulichen, wie âĂŒber und durch
die Ausarbeitung einer Geschichte der Autor dazu gebracht wird, die zutiefst
vergrabene, dunkelste, weil am unmittelbarsten an seine primÀren Investitio-
nen und Besetzungen gebundene Struktur zutage zu fördern, die seinen men-
talen Strukturen und literarischen Strategien zugrunde liegtâ10. Vor diesem
Hintergrund erscheint es signifikant, dass Musil sich schon in seinen aller-
5 Ebd., S. 72.
6 Ebd., S. 76.
7 Ebd., S. 77.
8 Ebd., S. 76. Dies geschieht, âindem man in AbhĂ€ngigkeit von einer Globalintention bestimmte
signifikante Ereignisse auswĂ€hlt und VerknĂŒpfungen zwischen ihnen herstellt, die geeignet sind,
ihr Eintreten zu begrĂŒnden und ihre KohĂ€renz zu gewĂ€hrleisten, solche etwa, wie sie implizit
geschaffen werden, wenn man Ereignisse als Ursachen oder, hĂ€ufiger noch, als Zwecke setztâ,
wie etwa an Goethes Dichtung und Wahrheit exemplarisch zu zeigen wÀre.
9 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 56 f.
10 Ebd., S. 54.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208