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1156 Teil III: Erzeugungsformel des Werks und Selbstobjektivierung des Autors
chend von der Familie Ulrichs im Mann ohne Eigenschaften ist Hermine Musil
erst 1924 gestorben, als ihr Sohn bereits 43 Jahre alt war.17
Robert Musil wurde am 6. November 1880 geboren und ist somit genauso
alt wie sein im Sommer 1913 32âjĂ€hriger Romanheld. In schulischer Hinsicht
allerdings gestaltet der Autor, der als InternatsschĂŒler die (damals durchaus
angesehenen) MilitĂ€r-Realschulen in Eisenstadt und MĂ€hrisch-WeiĂkirchen
(Hranice) besucht hatte, seinen Helden sogar als Steigerung seiner selbst :
Er hatte nÀmlich weder einen Aufenthalt am renommierteren Wiener The-
resianum hinter sich noch die Erfahrung eines auslÀndischen Erziehungsin-
stituts, sondern fĂŒhlte sich im Gegenteil wĂ€hrend seines Studiums geradezu
âals Halbbarbarâ unter den Gymnasiasten (Tb 1, 153). Ein weiterer signifikan-
ter Unterschied zwischen Ulrich und seinem Autor besteht darin, dass Musil
zwar auch eine Ingenieursausbildung absolviert und danach Mathematik stu-
diert hatte, aber in Philosophie promovierte18 â freilich ĂŒber die Erkenntnis-
theorie des Physikers Ernst Mach, einen Gegenstand mit gewisser AffinitÀt
zur Mathematik und den Naturwissenschaften. Im Unterschied zu Frédéric
Moreau, dem Helden Flauberts, ist Musils Ulrich weniger durch seine vor-
teilhafte Kapitalausstattung, die er mit Frédéric weitgehend teilt, als vielmehr
durch seinen Habitus in der Lage, eigene âGravitĂ€tâ zu entwickeln und sich
den KrÀften des Macht-Feldes zu widersetzen bzw. ihnen zumindest nicht
widerstandslos zu erliegen.19 Daraus resultiert, dass Ulrich als einziger der
zahlreichen Romanfiguren, die der Anziehungskraft des âanderen Zustandsâ
ausgesetzt sind, das allgemeine mystizistische Einheitsphantasma nicht um je-
den Preis verwirklichen will.
Das ist von zentraler Bedeutung fĂŒr die Gesamtanlage des Romans (und
von manchen ideengeschichtlich oder ideologiekritisch ausgerichteten Inter-
preten zu Unrecht vernachlÀssigt worden) : Wie in der vorliegenden Unter-
suchung deutlich geworden sein sollte, ist Ulrich nicht bereit, die reflexiven
Errungenschaften der Moderne ĂŒber Bord zu werfen : âDer wissenschaftli-
che Mensch ist heute eine ganz unvermeidliche Sache ; man kann nicht nicht
wissen wollen !â (MoE 214), hĂ€lt er an entscheidender Stelle dem bĂŒrgerli-
chen Neomystiker und Wagnerianer Walter entgegen und nimmt damit ei-
17 Vgl. Corino : Musil [2003], S. 723 u. 1903.
18 UrsprĂŒnglich hat Musil sogar geplant, seinen Protagonisten Achilles als âjunge[n] Privatdo zen-
t[en]â (Tb 1, 405) zu zeichnen, nachdem er seine eigenen HabilitationsplĂ€ne lĂ€ngst verabschie-
det hatte (vgl. Tb 1, 597). Zur Nachfolgerfigur Anders sind die ĂŒberlieferten PlĂ€ne hingegen
widersprĂŒchlich : So figuriert er sowohl als âPrivatdozent fĂŒr Philosophieâ (MoE 1992), wie es
auch heiĂt, er sei ânicht Dozent, sondern erst Doktorâ (Tb 1, 626).
19 Vgl. Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 44.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208