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und Romanheld in der Moderne â Musils indirekte Selbstanalyse
nen Gedanken aus Musils Sammelrezension EssaybĂŒcher (1913) auf, wonach
âetwas nicht wissen wollen, das feststehen könnte, bloĂ um einen schönen
Gedanken zu habenâ, als âim Grunde ebenso dickbĂŒrgerlichâ bezeichnet wird,
âwie Tatsachen um der Ruhe des GefĂŒhls willen zu leugnenâ (GW 9, 1450).
Ulrichs Liebe zur Genauigkeit, die aus seiner Ingenieursausbildung wie aus
seinem Mathematikstudium resultiert (vgl. MoE 39 f.), war um 1913 wie um
1930 â zur Zeit der Niederschrift des Romans â höchst unzeitgemÀà und ent-
sprach keineswegs den gÀngigen intellektuellen Moden. Sie entsprach indes
auf das Genaueste den erkenntnistheoretischen und Àsthetischen Vorlieben
Robert Musils, der um 1921 in sein Arbeitsheft 25 notierte : âIch muĂ zuerst
zeigen, warum ich anders denke. Es kommt davon, daĂ ich Ingenieur bin.â
(Tb 1, 644) Seine individuelle Denkweise hat auch in Musils Selbstwahrneh-
mung eminente Auswirkungen auf sein Werk, wie er im Artikel zum Moskauer
KĂŒnstlertheater vom 24. April 1921 festhĂ€lt : âDenn wer ein Dichter und kein
SchwÀtzer ist, gestaltet ja doch nicht seine EinfÀlle, sondern im einzelsten Ein-
fall noch sein Weltbild, seinen Weltwunsch und Weltwillen.â (GW 9, 1479)
In diesem Zusammenhang skizziert er die Voraussetzungen fĂŒr ein kĂŒnstleri-
sches âWerk [âŠ] im Sinne jener inneren TotalitĂ€t, die Göthe unendlich und
unerschöpflich nenntâ, und rekurriert dabei auf die klassische Vorstellung der
Kunst als âzweiter Naturâ, innerhalb derer sich die âinnere TotalitĂ€tâ des Werks
entfalte : âDiese entsteht [âŠ] nur dann â scheinbar paradoxer Weise â wenn
sich die Seele eines Dichters an einem Werk erschöpft hat ; so hineingestaltet
hat in das Werk, daĂ sie sich darin fast nicht mehr wiedererkennt, es fast nicht
mehr umspannen kann und das Werk mit der grausamen Abgeschlossenheit
einer neuen zweiten Natur sich gegenĂŒberstehen fĂŒhlt.â (GW 9, 1479) Ange-
sichts dieses Sachverhalts besteht eine besondere Schwierigkeit im VerhÀltnis
des KĂŒnstlers zu den von ihm hervorgebrachten Figuren. Musil hat die int-
rikate Beziehung zwischen sich als Autor und seinem mÀnnlichen Roman-
helden in verschiedenen AnlÀufen immer wieder neu umrissen. So notiert er
etwa Ende der zwanziger Jahre in einer tentativen Notiz zur SelbstverstÀn-
digung ironisch : âUlrich ebenso unsympathisch wie mich selbst zeichnen.â
(MoE 1831) In einer frĂŒhen Entwurfsphase des groĂen Romans, in der er
noch mit der Ich-Form experimentierte, zeigt er sich hingegen um Differen-
zierung bemĂŒht :
Ich wird in diesem Buche weder den Verfasser bedeuten, noch eine von ihm erfun-
dene Person, sondern ein wechselndes Gemisch von Beidem. [âŠ] Mit andern Wor-
ten, ich habe weder die ĂŒberpersönliche oder unpersönliche Absicht die Wahrheit zu
sagen, vielleicht mangelt mir auch bloà die FÀhigkeit dazu, noch die, meine persön-
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208