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und Romanheld in der Moderne â Musils indirekte Selbstanalyse
zur scheinbar bedingungslosen Reflexion und tatsĂ€chlich rĂŒcksichtslosen in-
tellektuellen Durchdringung seiner Zeit und Gesellschaft ; sie ist jedoch of-
fenbar zugleich eine Wunschprojektion des Autors, der selber bis zu seinem
dreiĂigsten Jahr auf Kosten seiner Eltern gelebt hatte, nach dem Ersten Welt-
krieg aber stĂ€ndig um die wirtschaftlichen Grundlagen seiner kĂŒnstlerischen
Existenz bangen musste und bald ganz auf die Hilfe seines Verlegers sowie
â spĂ€ter â wohlmeinender Freunde und Bewunderer angewiesen war.24 Das
im Roman manifeste erzÀhlerische Bewusstsein von den wirtschaftlichen und
sozialen Voraussetzungen intellektueller Freiheit hat seinen auĂerliterarischen
Existenzgrund in Musils geschĂ€rftem Sinn fĂŒr dieses Privileg, der sich nicht
zuletzt auf die traumatisierende Erfahrung der Inflation zurĂŒckfĂŒhren lĂ€sst.25
WĂ€hrend also Flaubert in seinem Protagonisten FrĂ©dĂ©ric gewissermaĂen das
âSchreckbildâ des eigenen Scheiterns höchst kunstvoll literarisch gestaltete und
durch das als persönlichen âSiegâ und eigene âMeisterschaftâ gefeierte Gelingen
des Romans nach dem Muster der Freudâschen Verneinung realiter zu bannen
vermochte26, formte Musil in der Figurengestaltung Ulrichs einerseits zwar
ebenfalls ein zu ĂŒberwindendes Gegenbild, andererseits aber zugleich ein af-
fektiv aufgeladenes Wunschbild der eigenen Selbstwahrnehmung27, das durch
die erhoffte Anerkennung der kĂŒnstlerischen und intellektuellen Leistung als
literarisches self-fashioning nobilitiert werden sollte.
Auf fast komische Weise schlÀgt sich diese affektive Investition in der wie-
derholt betonten körperlichen GröĂe des Romanhelden nieder, in seiner Breit-
schultrigkeit und blonden Haarpracht (vgl. MoE 93, 159 u. 942), die sich von
Musils eigener, mit 1,65 Metern auch fĂŒr damalige VerhĂ€ltnisse auffallend klei-
nen Statur und von seiner frĂŒhen Glatze augenfĂ€llig abheben. Eine andere Ma-
nifestation von Musils Wunschökonomie besteht in Ulrichs erotischer Attrak-
tivitÀt.28 Der Mann ohne Eigenschaften wird in körperlicher Hinsicht durchaus
24 Vgl. Corino : Musil [2003], S. 937â966, 1089â1108 u. 1157â1174.
25 Vgl. GW 7, 951â953 u. 957â959, sowie Corino : Musil [2003], S. 614â620.
26 Vgl. Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 54â61.
27 Vgl. MĂŒller-Funk : Seinesgleichen geschieht, S. 178, wo Ulrich im Sinne seines frĂŒheren Namens
âAndersâ als âder Andere des Autors, sein Stellvertreter und sein verfremdetes Wunschbild in der
Welt des Romansâ bezeichnet wird.
28 So heiĂt es bei der ersten Begegnung mit Diotima : âUlrich nahm wahr, daĂ auch sie sich dem
körperlichen Eindruck nicht ganz entziehen konnte, den er auf sie machte. Er war ihn gewohnt.
Er war glatt rasiert, groĂ, durchgebildet und biegsam muskulös, sein Gesicht war hell und un-
durchsichtig ; mit einem Wort, er kam sich manchmal selbst wie ein Vorurteil vor, das sich die
meisten Frauen von einem eindrucksvollen noch jungen Mann bilden [âŠ]. Ulrich konnte beob-
achten, daĂ sie dauernd seine Erscheinung betrachtete und offenbar nicht ungefĂ€llige GefĂŒhle
dabei hatteâ (MoE 93). Dazu auch Gödicke : Donjuanismus im Mann ohne Eigenschaften, S. 25.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208