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und Romanheld in der Moderne â Musils indirekte Selbstanalyse
rechtzuerhalten sucht. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, erscheint seine
körperliche AttraktivitÀt als ein erzÀhlerischer Kniff literarischer Sozioanalyse.
Ăberhaupt sind Ulrich weniger durch seine körperliche und habituelle An-
lage, sondern vor allem durch die gesellschaftliche Struktur der AuĂenwelt
Grenzen gesetzt : Anders als FrĂ©dĂ©ric (und dessen âstrukturelle Dubletteâ
Arnoux) ist er nicht âaufgrund seiner Unentschlossenheit und Unbestimmt-
heit wie seines Bestrebens, die GegensÀtze zu versöhnen, am Ende zum Ruin
verurteiltâ31, sondern im Gegenteil aufgrund seiner Existenz in einer Welt, die
selbst durch Unentschlossenheit und Unbestimmtheit geprÀgt ist, die sich in
erschlichenen und intellektuell unredlichen Versöhnungen die Möglichkeit ei-
ner Synthese des Heterogenen vorgaukelt und die schlieĂlich im kollektiven
Gewaltausbruch des Weltkriegs eine verlorene Einheit handstreichartig zu
restituieren sucht. Trotz dieser den Romanhelden entlastenden Konstellation
ist es wohl auch vor dem Hintergrund der höchst ambivalenten Identifikation
des Autors mit seinem Protagonisten32 zu verstehen, dass Musil es nicht fer-
tigbrachte, das geplante und in Notizen dokumentierte ânegativeâ Ende des
Romans im Krieg erzĂ€hlerisch zu realisieren, obgleich er doch erst âdurch den
Roman sich selbst von seiner Eigenschaftslosigkeit befreienâ konnte33 â einer
problematischen Seite der âEigenschaftslosigkeitâ mithin, die als âĂŒberwun-
dene und bewahrte Möglichkeitâ des Autors zu betrachten ist.34 Auch Mu-
sil strebt danach, â[i]m Schreiben einer Geschichte, die die seine hĂ€tte sein
könnenâ, zu negieren, âdaĂ diese Geschichte eines Scheiterns die Geschichte
desjenigen ist, der sie schreibt.â35 Sein zuletzt tatsĂ€chlich besiegeltes Scheitern
verdankt sich zu einem guten Teil den ZeitlĂ€uften, die seinem kĂŒnstlerischen
Projekt in der historischen RealitĂ€t â Ă€hnlich wie dem intellektuellen Projekt
Ulrichs in der romanesken Konstruktion â Ă€uĂerst ungĂŒnstig waren.
31 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 48.
32 Vgl. Burckhardt : âDer Mann ohne Eigenschaftenâ, S. 130â142, die die soziale Dimension aller-
dings unterbewertet.
33 Ebd., S. 136. Burckhardt rekurriert dabei freilich auf einen relativ eindimensionalen Begriff von
âEigenschaftslosigkeitâ, der dem damaligen Forschungsstand (1973) entsprach. Folgt man dieser
Deutung, dann ergibt sich eine zumindest partielle strukturelle Analogie der Musilâschen ErzĂ€hl-
konstellation nicht nur zu Flauberts Ăducation sentimentale, sondern auch zu Marcel Prousts Ă la
recherche du temps perdu : Der Schriftsteller Proust ist ja im Unterschied zu dem von ihm geschaf-
fenen ErzĂ€hler ânicht der völlig unproduktive Autorâ, sondern â durch den von ihm vollzogenen
âbefreienden und schöpferischen Bruch des Schaffendenâ â das, âwas der ErzĂ€hler in der und
durch die Arbeit wird, die die Suche hervorbringt und ihn als Schriftstellerâ; so zumindest Bour-
dieu : Die Regeln der Kunst, S. 173 f.; anders Hartwig : Poetik der Ăbereinstimmung, S. 115.
34 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 59.
35 Ebd., S. 57.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208