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1164 Teil III: Erzeugungsformel des Werks und Selbstobjektivierung des Autors
âAnti-GroĂschriftstellerâ bezeichnet (M III/5/58), und ebenfalls nicht von un-
gefĂ€hr lobt er am ansonsten eher ambivalent betrachteten Stefan George, âdaĂ
er fast der einzige war, der die Autonomie der Kunst wirklich vertreten hatâ
(GW 7, 845, nach M III/5/29). Musils VerhÀltnis zur sozialen und spezifisch
zur literarischen âgroĂen Weltâ ist wie bei Baudelaire das âdes Ausgeschlosse-
nen, der gezwungen ist, kraft permanenten Bruchs das auszuschlieĂen, was ihn
ausschlieĂtâ41 â und daran dennoch leidet, wie er sich selber wiederholt einge-
steht. So bemerkt er in einer selbstkritischen Notiz angesichts des nach dem
âAnschlussâ Ăsterreichs erfolgten âVerbot[s]â des Mann ohne Eigenschaften im
GroĂdeutschen Reich, der daraus resultierenden âZerstörung der Verhandlun-
gen mit Verlegernâ sowie der eifersĂŒchtig registrierten âUeberhĂ€ufung Thomas
Manns mit Vorteilen in Amerikaâ, wĂ€hrend er selbst âdort wie unbekannt er-
scheineâ : Er empfinde eine âinnere Opposition gegen die Freunde und Feindeâ
und habe den âWunsch, weder da noch dort zu seinâ ; âund dochâ erhebe er
die âKlage darĂŒberâ, dass man ihn âda und dort abstösstâ (M VIII/3/36). Aus
kritischer Perspektive mag man in Musils giftigen ĂuĂerungen ĂŒber erfolgrei-
chere Schriftstellerkollegen das Ressentiment des sozial Gescheiterten am Werk
sehen42, âdas ihn dazu verleitet, sein Scheitern zum Aristokratismus des frei-
gewĂ€hlten Verzichts zu stilisierenâ43. Wie Bourdieu betont, kann eine solche
(kĂŒnstlerische) Strategie indes durchaus produktive Wirkung entfalten : âDer
Kult der UneigennĂŒtzigkeit bildet die Basis einer wundersamen Umkehrung,
die aus Armut verworfenen Reichtum, mithin geistigen Reichtum macht.â44
Musils zunehmende Verbitterung, die aus seiner relativen Erfolglosigkeit bei ei-
nem gröĂeren, besonders aber bei einem sozial legitimierenden Publikum resul-
tierte45, trug sicherlich zu einer schÀrferen, ja zu einer extrem pointierten Sicht
auf die im Literaturbetrieb herrschenden VerhÀltnisse bei.46
Angesichts einer modernen Welt, in der die groĂen Worte und Gesten
leicht dem Verdacht der interessegeleiteten Selbstinszenierung, des geschick-
41 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 144, Anm. 71.
42 Corino : Musil [2003], S. 1181, spricht von âMusils neurotischem Verhalten gegenĂŒber anderen
Schriftstellernâ.
43 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 60.
44 Ebd.
45 Vgl. dazu eine bittere Notiz aus dem Nachlass, die den Effekt einer âprĂ€stabilierten Harmonieâ
zwischen dem Habitus der konkurrierenden Autoren und jenem ihrer jeweiligen Leserschaft
beschreibt : âEs muĂ an wohlhabenden Menschen etwas sein, das sie Thomas Mann bewundern
lĂ€Ăt. An meinen Lesern, daĂ sie einfluĂlos sindâ (MoE 1940).
46 Zu Musils Anatomie des Literaturbetriebs vgl. Amann : Nieder mit dem Kulturoptimismus,
S. 501 f.; Amann : Musil â Literatur und Politik, S. 76â80.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208