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2.3. DIEZEIT INGEORGENSGMÜND 75
eine gemeinsameWohnung. Wie wohl auch schon vorher in Nürnberg wohnte bei uns
zudemeinsogenanntesPflichtmädchen.DieNationalsozialistenhatten1938einPflichtjahr
für alle Frauen unter 25 eingeführt, das beispielsweise in Haushalten abgeleistet werden
konnte.61 Ichhabenur sehrvageErinnerungenandiebeiuns indieserFormbeschäftigten
Mädchen. Nur der NameHermine ist mir von einem derMädchen noch in angenehmer
Erinnerung. Sie alle waren wohl in einem Alter von etwa 15 bis 18 Jahren und sollten
durchMithilfe in einer Familie die Führung einesHaushalts erlernen.
Neuanfang
FürmeineElternwie fürMillionenvonMenschen62hießes jetzt:ganzvonvorneanfangen.
Denn ohne jegliche persönliche Schuld standen sie nach der Zerstörung ihres gesamten
Eigentums wie nie zuvor in ihrem Leben erst einmal vor dem Nichts. Der in diesem
ZusammenhangverwendeteBegriffder Schuld imKontextderHitlerschenDiktaturund
des von dieser angezettelten Weltkriegs ist sehr komplex. Millionen ermordeter Juden
mußten ein noch brutaleres Schicksal erleiden als den Verlust des Vermögens, obwohl
auch sie keinerlei Schuld in dem hier gemeinten Sinne hatten. Der vom Einzelnen zu
verantwortendeAnteil an einem solchen von einerGesellschaft vonMenschen gemeinsam
gestaltetenGeschehenvariiertübereinbreitesSpektrum.ImvorliegendenFalldeszweiten
Weltkrieges umfaßte dieseGesellschaft vonMenschen sogar vieleVölker undStaaten der
Erde.
Ungeachtet dieses breiten Spektrums ist die Verantwortung dafür, wie es zu all dem
kommen konnte, gleichwohl unterscheidbar. In einer ersten groben Näherung kannman
alleBeteiligten sehrwohl indie folgendendreiUntergruppen einteilen: (a) die Initiatoren
und aktiven Beförderer, allen voran Hitler und seine engere Umgebung; (b) die aktiven
Gegner, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten zumindest versucht haben, sich gegen die
Entwicklung zu stemmen, umsie inbessereBahnen zu lenken; (c) die großeMehrheit der
mehroderwenigerpassivenMitläufer,diesichvorwiegendumdaseigeneWohlgekümmert
und quasi denKopf in den Sand gesteckt haben.
Wie ichbeschriebenhabe, gehörtemeinVater durch seineAktivitätenbis 1933 eindeu-
tig in die b-Gruppe.Wie wir bei der Beschreibung des Spruchkammerverfahrens weiter
unten noch sehen werden, haben meine beiden Eltern das Hitlersche Regime auch da-
nach nie in irgendeinerWeise aktiv unterstützt, sondern vor allemmeinVater ist immer
61https://de.wikipedia.org/wiki/Pflichtjahr, Zugriff 28.7.2015.
62Darunterwarenbeispielsweise etwa14MillionenHeimatvertriebene, aber auchvieleKriegsversehrte,
Spätheimkehrer ausKriegsgefangenschaft, umnur einige der betroffenenMenschengruppen zu nennen.
Reflexionen vor Reflexen
Memoiren eines Forschers
- Titel
- Reflexionen vor Reflexen
- Untertitel
- Memoiren eines Forschers
- Autor
- L. Wolfgang Bibel
- Verlag
- Cuviller Verlag Göttingen
- Ort
- Göttingen
- Datum
- 2017
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-SA 4.0
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 464
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 1
- Vorfahren 11
- Kindheit 51
- Zielsuche 153
- Forscherleben 281
- Resümee 413
- Stichwort- und Namensverzeichnis 427