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22 Einleitung
Realismus im Sinne der mimesistheoretischen Diskussion als ein besonderer
Streitpunkt der Musil-Forschung. Dabei schlugen die Wogen oftmals hoch,
weil mit der jeweiligen Antwort nicht nur die historische Situierung des Au-
tors und seines Werks, sondern zudem eine bestimmte ideologische Haltung
der jeweiligen Interpreten und damit ganz offensichtlich eine Positionsnahme
im Feld der (Literatur-)Wissenschaft verbunden war. Einen Niederschlag fand
die Debatte in zahlreichen AufsÀtzen, die sich auf diese Fragestellung kon-
zentrierten, wie bereits die Titelformulierungen zu erkennen geben.55 In den
spĂ€teren achtziger und neunziger Jahren hat nun â wiederum in enger Verzah-
nung mit der literaturwissenschaftlichen Moden- und Methodengeschichte
â eine bemerkenswerte Aufmerksamkeitsverschiebung stattgefunden : Unter
dem Einfluss strukturalistischer, postmoderner und poststrukturalistischer
Theorien wurde das Interesse an mimesistheoretischen Aspekten durch die
Konzentration auf selbstreferenzielle Schreibverfahren mit illusionsstörender
oder gar -vernichtender Wirkung verdrÀngt.56 Viele vordem vernachlÀssigte
Seiten des Mann ohne Eigenschaften wurden dadurch erstmals ins Licht ge-
rĂŒckt.
Die emphatische Feier einer radikalen SelbstbezĂŒglichkeit der Schrift, de-
ren innovatorischer Gestus nicht zuletzt dadurch entstand, dass sie den naiv,
aber umso dezidierter daherkommenden Gesellschaftsbezug der âideolo-
giekritischen Schuleâ konterkarierte, hat mittlerweile allerdings selbst Patina
angelegt. Wie noch genau zu erörtern sein wird, folgt die vorliegende Un-
tersuchung deshalb dem Ziel, der unbestreitbaren historischen und sozialen
ReferenzialitĂ€t57 des groĂen Romans â unter BerĂŒcksichtigung der gewonne-
losigkeit ; Böhme : Anomie und Entfremdung ; Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideolo-
giekritik.
55 Vgl. Freese : Musil als Realist ; Karthaus : War Musil Realist ? ; Zeller : Musils Auseinanderset-
zung mit der realistischen Schreibweise ; Karthaus : Musil und der poetische Realismus ; Freese :
Aspekte und Fragen zum Problem eines Musilschen Realismus in den zwanziger Jahren ; Fou-
rie : Musil als Realist ? â Einen Ăberblick ĂŒber die Diskussion mit weitergehenden Anregungen
und Literaturhinweisen gibt Krottendorfer : Versuchsanordnungen, S. 13â29 (auf dem Cover
des Buchs lautet dessen Titel ĂŒbrigens abweichend vom Titelblatt und fĂŒr den gegenwĂ€rtigen
Zusammenhang einschlÀgig : Das experimentelle VerhÀltnis von Literatur und RealitÀt in Robert
Musils âDrei Frauenâ).
56 Vgl. etwa Eisele : Ulrichs Mutter ist doch ein Tintenfaà ; Böhme : Zeit ohne Eigenschaften ; Pekar :
Die Sprache der Liebe ; Renner : Transformatives ErzĂ€hlen ; Honnef-Becker : âUlrich lĂ€chelteâ ;
dies.: Selbstreferentielle Strukturen ; Schilt : âNoch etwas tiefer lösen sich die Menschen in Nich-
tigkeiten aufâ ; Precht : Die gleitende Logik der Seele ; Glander : âLeben, wie man liestâ ; dies.:
âDie StraĂenwĂ€nde wanken wie Kulissenâ.
57 Im Zuge eines in den letzten Jahren wiedererweckten, nicht mehr so unmittelbar ideologischen
Interesses am literarischen Realismus, von dem etwa eine 2004 in Louvain-la-Neuve (Belgien)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208