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29Die
MĂŒhen der Literaturwissenschaft : Aporien der Forschung
sprechen.86 Die vorliegende Interpretation des Mann ohne Eigenschaften kann
hier durchaus an Moser anknĂŒpfen, wenngleich sie den einzelnen Akteuren
sowohl der ârealenâ Geschichte als auch des erzĂ€hlten Geschehens und ih-
ren individuellen verbalen wie nonverbalen Verhaltensweisen eine noch
gröĂere Bedeutung beimisst, als das Mosers â und mehr noch die klassisch
Foucaultâsche â Diskursanalyse zu tun bereit ist. In diesem Sinn wird Musils
Roman im Folgenden nicht nur als âDiskurs-EnzyklopĂ€dieâ87 gelesen, sondern
ĂŒberdies als EnzyklopĂ€die zeitgenössischer sozialer Praktiken, welche die Dis-
kurse begleiten88 ; sie verstÀrken oder konterkarieren sie, legen aber jedenfalls
den Lesern und Leserinnen nahe, sie auf ihre auĂerdiskursiven Bedingungen
der Möglichkeit zurĂŒckzubeziehen â in programmatischer ErgĂ€nzung des bis-
her vorherrschenden rein diskursiven Augenmerks.89
Beim Mann ohne Eigenschaften handelt es sich bekanntlich um einen Roman
mit ausschweifenden Reflexions- und GesprĂ€chspassagen. Die letzteren â ins-
86 Vgl. etwa Hoffmann : âDer Dichter am Apparatâ, der es sich zur Aufgabe macht, âeine âArchĂ€o-
logie des Wissensâ zu schreiben, das in Musils Texte und ihre Poetik eingegangen ist und ihnen
vorausgegangen istâ (S. 8). Es geht ihm nicht darum, wie Musil ein vorgefundenes Wissen aktiv
in seinen Roman integriert und Àsthetisch funktionalisiert, sondern darum, wie das Wissen sich
im Roman gleichsam ohne willentliches Zutun des Autors speichert. Das Agens von VerÀn-
derungen wird nicht im Handeln historischer Akteure, sondern in diskursiven Vorgaben und
medientechnischen Konstellationen gesucht. Ohne zu behaupten, dass Musils Texte in dem
von ihm rekonstruierten âNetz von Wissen und Praktiken restlos sich erschlieĂenâ, beansprucht
Hoffmann dennoch, dass dieses Netz âwesentlich die Texte Musils in ihrer PositivitĂ€t, in ihren
GegenstĂ€nden, Motiven und Aussagen bestimmtâ (S. 12).
87 So die mittlerweile etablierte Formel von Moser : Diskursexperimente im Romantext, S. 188 :
âEr zeichnet die Diskursgewohnheiten einer gegebenen Gesellschaft zu einem gegebenen Zeit-
punkt auf. Er registriert alles ihn Umgebende, indem er es im Rahmen seiner FiktionalitÀt ver-
wendet, er ĂŒbernimmt bestehendes Wissen. DarĂŒber hinaus geht es ihm aber hauptsĂ€chlich
darum, die Einzelheiten des enzyklopĂ€dischen Wissens auszuprobieren.â
88 Um terminologische Verwirrung zu vermeiden, werden unter âDiskursâ im Folgenden stets
machtdurchtrĂ€nkte sprachliche Kommunikationsformen verstanden, die von anderen, nichtÂ
sprachlichen Kommunikationsformen flankiert sind. Der hier verfolgte Ansatz kann sich durch-
aus auch auf diskursanalytische Einsichten berufen. So postuliert Foucault : Die Wahrheit und
die juristischen Formen, S. 671, âDiskursphĂ€nomene nicht mehr nur unter sprachlichem Aspekt
zu betrachten, sondern [âŠ] als strategische Spiele aus Handlungen und Reaktionen, Fragen
und Antworten, Beherrschungsversuchen und Ausweichmanövern, das heiĂt als Kampf. Der
Diskurs ist jenes regelmĂ€Ăige Ensemble, das auf einer Ebene aus sprachlichen PhĂ€nomenen und
auf einer anderen aus Polemik und Strategien besteht.â Die so skizzierte, auf zweierlei Unter-
suchungsebenen verfahrende âAnalyse des Diskurses als strategisches und polemisches Spielâ
(ebd.), welches seinerseits âTeil der sozialen Praktikenâ (S. 672) ist, findet sich allerdings weniger
in Foucaults Arbeiten verwirklicht als in Bourdieus kultursoziologischem Ansatz.
89 Formen der Macht sind per se nicht sprachlicher Natur, können aber mittels Sprache ausgeĂŒbt
und ausgefochten werden.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208