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32 Einleitung
ziativen VerknĂŒpfungâ transformierte97, wie Renner meint, dann wĂ€re es nicht
erklÀrbar, warum der kanonische Romantext und vor allem der apokryphe
Nachlass einen solchen planerischen Aufwand und eine solche gestalterische
Besonnenheit verraten â und das sowohl in der mikrologischen Figurengestal-
tung wie auch in dem auf den Kriegsausbruch fokussierten makrologischen
Handlungsverlauf und in der (freilich fragmentarisch gebliebenen) symmetri-
schen Gesamtanlage des Romans.98 2. Wenn das von Musil ErzÀhlte tatsÀch-
lich relativ evidenz- und referenzlos wÀre, wie Renner ebenfalls suggeriert,
dann wÀre es kaum nachvollziehbar, weshalb so viele Leser in Musils Roman
eine unbestechliche (wenn auch durchaus nicht lieblose) Analyse der unterge-
henden Habsburgermonarchie erkannt haben, die manchen historiografischen
Studien an die Seite zu stellen oder gar vorzuziehen sei.99
Zweifellos handelt es sich um einen Roman, der den Realismus als literari-
sches Verfahren â und damit auch den Anspruch auf âAbbildungâ der Wirklich-
keit â ausdrĂŒcklich ablehnt : So hat sich Musil im bereits erwĂ€hnten GesprĂ€ch
mit Oskar Maurus Fontana vom 30. April 1926 anlÀsslich der Arbeit an seinem
Hauptwerk, das damals noch nicht den Namen Der Mann ohne Eigenschaften
trug, in aller Deutlichkeit vom âhistorischen Romanâ100 distanziert : âDie reale
97 Ebd., S. 72.
98 Musil selbst betonte in einem Brief an Walther Petry vom 4.3.1931, er habe âauf nichts solche
Aufmerksamkeit verwendet als auf die Konstruktion der Entsprechungen und des Aufbausâ
(BrN 13).
99 Vgl. etwa MĂŒller : Ideologiekritik und Metasprache, S. 98 f.; Wefelmeyer : Kultur und Literatur,
S. 213 ; Kuzmics/MozetiÄ : Musils Beitrag zur Soziologie, S. 227. Ironischerweise wurde sogar
von âpostmodernerâ Seite die Ansicht vertreten, dass die in Musils Mann ohne Eigenschaften
wirksamen âAussage- und Wissensordnungenâ denselben âAn-Spruch auf Wahrheitâ hĂ€tten
wie diejenigen historiografischer Untersuchungen ; vgl. Barberi : Clio verwunde(r)t, S. 21. Diese
Nivellierung der funktionalen Differenz zwischen fiktionalen und faktualen Texten macht sich
die vorliegende Untersuchung nicht zu Eigen.
100 Historische Romane bezeichnet Musil in den nachgelassenen Notizen zur Parallelaktion als
âBĂŒcher, welche die groĂen Löcher in unserem Wissen ĂŒber die Vergangenheit benĂŒtzen, um
sie mit Kitsch/dem Mist der Gegenwart auszufĂŒllenâ. Dabei geht es ihm keineswegs um eine
Ablehnung des historischen Denkens, sondern eines gewissen, seit dem Historismus beliebten
literarischen Genres : âWenn irgendetwas in der Welt es vermag, die Wichtigkeit geistiger Leis-
tung fĂŒr das reale Leben vor Augen zu fĂŒhren, so ist es dieser geistige Sumpf, der aus Halbwissen,
Kitsch und vor allem aus gar nicht Wissen wollen [sic], wie es wirklich war, besteht, und es ist
sehr natĂŒrlich, daĂ der aus ihm aufsteigende Nebel das unzusammenhĂ€ngende Verhalten eines
Rausches zur Folge hatte.â Noch deutlicher wird er in einer dazugehörenden Randnotiz : âDas ist
ebenso respektlos gegen die Vergangenheit, die unbedingt viel interessanter gewesen sein muĂ,
wie es idiotisch ist. Aber man wird unschwer sehen, daĂ das pathetisch-ungenaue Verhalten zur
Vergangenheit in vielen Variationen weit verbreitet istâ (M VII/1/94). Zu den HintergrĂŒnden der
Kritik Musils am historischen Roman vgl. auch Haslmayr : Die Zeit ohne Eigenschaften, S. 70â75.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208