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36 Einleitung
Aufstiegs, kurz gerade jene Mischung subjektiver und objektiver Erkenntnisfaktoren,
deren Trennung die mĂŒhselige Sortierarbeit der Erkenntnistheorie ausmacht, von der
sich Spengler dispensiert hat, weil sie dem freien Flug der Gedanken ganz entschie-
den hinderlich ist. (GW 8, 1045 ; vgl. ebd., 1045 f. u. 1433 ; M VI/1/24 u. 64)
Dem âfreien Flug der Gedankenâ, so schön er auch sein mag, wird auch in
der vorliegenden Arbeit insofern Einhalt geboten, als ein Referenzialisierungs-
anspruch der im Folgenden angestellten Beobachtungen und entwickelten
Hypothesen durchaus erhoben wird. Daraus folgt jedoch kein naiver Begriffs-
realismus bzw. keine Abkehr vom konstruktivistischen Paradigma moderner
Kulturwissenschaften, das gerade fĂŒr eine adĂ€quate Analyse des Musilâschen
Romans unabdingbar scheint. Wie bereits angedeutet, besteht ein nicht un-
erheblicher Erkenntnisgewinn der âpostmodernenâ Musil-Deutungen im ge-
wachsenen Wissen um die ausgeprÀgte AutoreferenzialitÀt des Mann ohne
Eigenschaften111 â eine Errungenschaft, hinter die nicht zurĂŒckzufallen ist. Die
gewonnene Einsicht darf indes nicht ĂŒberzogen werden, da sie sonst Gefahr
lĂ€uft, in ihr Gegenteil umzuschlagen ; bei aller SelbstbezĂŒglichkeit des schier
endlos mÀandernden Romantextes kann eine absolute Referenzlosigkeit ein-
fach nicht sinnvoll behauptet werden.112
Zwar ist die ârelative [!] Autonomie jeder Diskursart und das Spiel der
Unterschiede, GegensÀtze und Trennungen, das das Diskurssystem in einer
Gesellschaft zu einer gegebenen Zeit konstituiertâ, âeine wichtige diskursive
Tatsacheâ.113 Sie hat aber eine nicht ausschlieĂlich diskursive Dimension bzw.
darĂŒber hinausgehende Implikationen und ist nur im Rahmen eigendynami-
scher sozialer Mikrokosmen sinnvoll vorstellbar â eine Einsicht, auf die eine
adÀquate Interpretation des Mann ohne Eigenschaften nicht verzichten kann,
zumal der Romantext selbst an zahlreichen Stellen die soziale Dimension des
Diskursiven betont. Aus diesem Grund scheint sich die soziologische System-
theorie mit ihrem Konzept gesellschaftlicher Autopoiesis als Grundlage einer
Analyse anzubieten, wenn man den mittlerweile zahlreichen einschlÀgigen Un-
tersuchungen zu Musil folgen mag, die sich darauf mehr oder weniger konse-
111 Darauf hat mit Blick auf die privilegierte âStellung der Literaturproblematikâ im Mann ohne
Eigenschaften zuerst Eisele : Ulrichs Mutter ist doch ein TintenfaĂ, S. 163, aufmerksam gemacht.
112 Martens : Beobachtungen der Moderne, S. 20 f., weist zudem darauf hin, dass die âpostmoderne
Rezeption des Romans vor allem aus dessen selbstreferentiellen Tendenzen schöpftâ, diese
jedoch selbst âunterkomplex, nĂ€mlich mimetisch (also unter Berufung auf die herkömmliche,
organische Einheit oder Ăbereinstimmung von Inhalt und Form) anwendet.â Mehr dazu ebd.,
S. 41.
113 Moser : Diskursexperimente im Romantext, S. 179.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208