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39Die
MĂŒhen der Literaturwissenschaft : Aporien der Forschung
teile bei der Deutung philosophisch-essayistischer Passagen des Mann ohne
Eigenschaften, weil sie deren inhaltliche Tendenz zur Ablösung individualisti-
scher Konzeptionen des Menschen sowie zur Inauguration einer funktiona-
listischen Konzeption von Gesellschaft teilt.124 Weniger geeignet scheint sie
hingegen zur Beschreibung der konkreten sozialen Praxis von einzelnen Ro-
manfiguren, die trotz aller Ăberformung der narrativen Handlungssubstanz
durch den essayistischen ErzÀhlerdiskurs doch den gesamten Romantext zu-
sammenhÀlt und einen zentralen Bestandteil der erzÀhlten Welt ausmacht, die
keineswegs hinter ihrer ErzÀhlung (récit) oder gar dem ErzÀhlen (narration)
verschwindet. Den fiktionalen gesellschaftlichen Rahmen (âKakanienâ) sowie
die differenzielle figurale Praxis bis hin zu ihrer körperlichen Dimension gilt
es in der vorliegenden Untersuchung wieder stÀrker ins Zentrum des analyti-
schen Interesses zu stellen, sind sie es doch, die Musil mit seiner Entscheidung
fĂŒr die Literatur (und gegen die damalige Philosophie) ganz bewusst zum
Medium seiner schriftstellerischen BemĂŒhungen gemacht hat. Das verstĂ€rkte
Augenmerk auf die erzÀhlte Geschichte (histoire), die Musil mit zahlreichen
distinktiven sozial- und kulturhistorischen Details atmosphÀrisch angereichert
hat, erlaubt es, seinen Roman in der Analyse wieder mit jener âsozialen Ener-
gieâ125 aufzuladen, die in seine Niederschrift eingeflossen ist und die zweifels-
ohne seine anhaltende intellektuelle Brisanz mitbedingt.
In der hier vorliegenden Untersuchung gilt besondere Aufmerksamkeit
der in der romanesken Handlungssubstanz sichtbar werdenden âLogik der
Praxisâ, deren Besonderheit Bourdieu folgendermaĂen umrissen hat : âMan
muĂ der Praxis eine Logik zuerkennen, die anders ist als die Logik der Logik,
damit man der Praxis nicht mehr Logik abverlangt, als sie zu bieten hat. Sonst
wĂ€re man dazu verdammt, entweder mangelnde SchlĂŒssigkeit von ihr zu ver-
langen oder ihr eine erzwungene SchlĂŒssigkeit ĂŒberzustĂŒlpen.â126 Bourdieu
124 Vgl. Martens : Beobachtungen der Moderne, S. 34â37.
125 Der Begriff der âsozialen Energieâ, verstanden als âForm von verdinglichter oder lebendiger
Arbeitâ, begegnet bei Bourdieu : Ăkonomisches Kapital â Kulturelles Kapital â Soziales Kapital,
S. 49 u. 71. Die in den Literaturwissenschaften wohl prominentere, jĂŒngere, aber inhaltlich
nicht deckungsgleiche Begriffsverwendung in Greenblatts Shakespearean Negotiations spielt hier
hingegen eine geringere Rolle. Vgl. BaĂler : New Historicism, S. 16, vor allem aber Greenblatt :
Verhandlungen mit Shakespeare, S. 9â33, hier S. 15 f., wonach sich die in ihrer Herkunft nicht
nĂ€her ergrĂŒndete âsoziale Energieâ âin der FĂ€higkeit gewisser sprachlicher, auditiver und visuel-
ler Spurenâ manifestiert, âkollektive physische und mentale Empfindungen hervorzurufen und
diese zu gestalten und zu ordnenâ.
126 Bourdieu : Sozialer Sinn, S. 157. Vgl. dazu auch Bourdieus Kritik der âTheorie des rationalen
Handelnsâ, die er als âtypisches Beispiel fĂŒr die scholastic fallacyâ bezeichnet, âden gewöhnli-
chen TrugschluĂ der professionellen HĂŒter von logos und Logik, der darin besteht, âdie Dinge
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208