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85Grundlagen
der Poetik Musils
che Erscheinung des Menschen und sein Habitus werden demnach von einer
Interdependenz materieller und immaterieller KrÀfte geformt, wie Musil in
AnsĂ€tze zu neuer Ăsthetik zeigt : âSelbst im Alltagsleben lernen wir durch je-
des ansteckende Beispiel, sei es der Shawlschwung des Filmhelden, der dem
StraĂenlĂŒmmel ein StĂŒck Seele schenkt, oder das verliebte Wort, an dem sich
die Liebe entzĂŒndet, daĂ der Ausdruck des Daseins das erst erzeugt, was seine
Form annimmt ; daĂ Kleider Leute machen, ist ein bis in die Elemente gelten-
der Satz.â (GW 8, 1148)
Von den verschiedensten Seiten umspielt Musil die Interdependenz
menschlichen âSeinsâ, Verhaltens und Bewusstseins, ohne auf eindimensionale
ErklĂ€rungsmuster zurĂŒckzugreifen, was ihm insbesondere in den siebziger
Jahren des 20. Jahrhunderts zu einiger Kritik gereichte. Er beansprucht fĂŒr
sich einerseits das âPrinzip, wonach zwar die Ideen die Geschichte bestim-
men, aber neue Ideen den Leuten nicht einfallen wollenâ (Br 1, 471), woraus
der Eindruck einer âewigen Wiederkehr des Gleichenâ (Nietzsche) entsteht.
Andererseits stellt er mit Blick auf die kĂŒnstlerische Produktion in fast parado-
xer Weise fest, âdaĂ die wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung einen
starken EinfluĂ auf dichterisches Schaffen ausĂŒbt, nicht nur materiell, sondern
auch ideell â sowohl in der Problemstellung, wie in der Problembehandlungâ.
Daneben gebe es allerdings âin der Kunst Probleme des Inhalts und der Form,
die seit dem 6. Jahrtausend v. u. Z. sich immer erneuert habenâ (Br 1, 472).
Dies konterkariert wiederum die Vorstellung einer allzu eindimensionalen
Dependenz. SchlieĂlich gelangt Musil zu einem salomonischen Fazit, indem
er sich nach der von Bourdieu beschriebenen Logik âdoppelter Distinktionâ52
von den idealistischen wie von den materialistischen Extrempositionen seiner
Zeit gleichermaĂen abgrenzt : âIn ihrer AbhĂ€ngigkeit von der Gesellschafts-
ordnung befindet sich die Kunst irgendwo in der Mitte.â (Br 1, 472)
Noch am 30. Januar 1939 gesteht Musil im Entwurf eines Briefs an Niels
Frederic Hansen ein, dass er âeinen starken Einschlag von individualistischem
Denken habeâ ; da er sich jedoch âimmer bemĂŒhe, es mit dem Begriff der
Wahrheit zu konfrontieren, hoffe [er] immerhin auch eine starke soziale Kom-
ponente zu besitzenâ (Br 1, 928). Bezeichnend ist an diesem erneuten Versuch
einer Ăberwindung falscher Alternativen die angestrebte Konfrontation des
individualistischen Denkens mit der âWahrheitâ, worunter Musil kein ideolo-
gisches Dogma, sondern die standortgebundenen Erkenntnisse der modernen
Natur-, Human- und Sozialwissenschaften versteht (vgl. etwa Tb 1, 130 u.
463), die er im Roman allenthalben thematisiert. In diesem Zusammenhang
52 Vgl Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 127.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208