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86 Teil I: Grundlegung
ist er sich allerdings bewusst, dass er als ErzĂ€hler âdas politisch Soziale ver-
missenâ lasse (Br 1, 928). Was immer das im Einzelnen heiĂen mag â es steht
zu vermuten, dass es ihm mit solchen Worten in erster Linie um eine Abgren-
zung gegenĂŒber der zeitgenössischen âengagiertenâ und politisierten Literatur
zu tun war.53
Ein Votum fĂŒr einen idealistischen Individualismus ist damit jedenfalls
kaum gemeint54, denn das wĂŒrde Musils negativer und skeptischer Anthro-
pologie keinesfalls entsprechen. Bereits im Essay Die Nation als Ideal und als
Wirklichkeit ist von der entindividualisierenden Wirkung der Kriegsbegeiste-
rung im August 1914 die Rede, die als problematische Variante des spÀter-
hin so intensiv erforschten âanderen Zustandsâ prĂ€sentiert wird : âMan war
plötzlich Teilchen geworden, demĂŒtig aufgelöst in ein ĂŒberpersönliches
Geschehenâ (GW 8, 1060). Musil weigert sich, das zunĂ€chst als beglĂŒckend
und zunehmend auch als verstörend erfahrene âberauschende GefĂŒhlâ, âzum
erstenmal mit jedem Deutschen etwas gemeinsam zu habenâ, im RĂŒckblick
einfach als gegenstandslos zu eskamotieren : âIm Gegenteil, was man anfangs
stammelte und spĂ€ter zur Phrase entarten lieĂ, daĂ der Krieg ein seltsames,
dem religiösen verwandtes Erlebnis gewesen sei, kennzeichnet unzweifelhaft
eine Tatsache [âŠ]. [E]s war, als ob mystische Ureigenschaften, welche in ei-
nem Wort eingeschlossen die Jahrhunderte verschlafen hatten, plötzlich so
real erwachten wie die Fabriken und Kontore am Morgen.â (GW 8, 1060 ; vgl.
Tb 1, 543 f.) Die âgeradezu leibhaftâ gespĂŒrte Nation55 erschien mit einem
Schlag genauso âwirklichâ wie die industriellen und wirtschaftlichen Instituti-
onen der modernen Gesellschaft, und die Leugnung dieser âWirklichkeitâ, die
nach dem Krieg von vielen kritischen Autoren besonders seitens der Linken
betrieben wurde56, erklĂ€rt Musil zu bloĂer âVogelstrauĂpolitikâ :
53 Vgl. Rohrwasser : Musil auf dem Pariser Schriftsteller-KongreĂ ; Amann : âNieder mit dem Kul-
tur optimismusâ ; Wolf : Geist und Macht ; Amann : Musil â Literatur und Politik ; mehr dazu in
Kap. III.1.1.
54 Vgl. dagegen Neymeyr : Psychologie als Kulturdiagnose, S. 51 u. bes. S. 390â410, sowie bereits
die in diese Richtung zielenden Bemerkungen von Schmidt : Die Geschichte des Genie-Gedan-
kens, Bd. 2, S. 287 u. 296â298.
55 Vgl. etwa Troeltsch : Die Ideen von 1914 [1916], S. 42 f.: âIn der Kriegsarbeit schmolzen alle,
Hoch und Niedrig, Gebildete und Ungebildete, zusammen, und die Gliederungen wurden wie-
der die natĂŒrliche Gliederung der Arbeit und der Leistung. [âŠ] Es ist die ungeheuere Bedeu-
tung des August, daĂ er unter dem Druck der Gefahr das gesamte Volk zu einer inneren Einheit
zusammenpreĂte, wie es niemals vorher gewesen war.â
56 Zu denken ist hier wohl weniger an deutsche pazifistische Autoren wie Carl von Ossietzky
oder Kurt Tucholsky, mit denen Musil kaum BerĂŒhrungspunkte hatte (Erich Maria Remarques
literarischer Durchbruch gelang erst 1929 mit dem Roman Im Westen nichts Neues), sondern eher
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208