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122 Teil I: Grundlegung
Nur Sachen schreiben, die man mit jedem vernĂŒnftigen Menschen besprechen
könnte. Was man sagt, muà [sic] man auch in alltÀglichen Worten begreiflich machen
können. Es muss auch einen Wert im wirklichen Leben haben. Es muss einfach ein
wirklicher Gedanke sein, kein vages Gestammel, ein an wirkliche Situationen, an rele-
vante Innerlichkeiten anknĂŒpfender Gedanke. Es muss etwas sein, das mir persönlich
wichtig ist ; meiner wachen Persönlichkeit ! (M II/1/143)
Dieser Aufforderung zur eigenen Orientierung an einem allgemeinen Com-
mon Sense ist Musil im Mann ohne Eigenschaften ĂŒber weite Strecken glĂŒck-
licherweise nicht gefolgt. Wenn man sie aber auf seine zur Zeit ihrer Nieder-
schrift tatsĂ€chlich vorliegenden ErzĂ€hltexte â insbesondere auf die Ă€sthetisch
höchst artifiziellen Vereinigungen (1911) â bezieht, erhĂ€lt der beschwörende
Appell an âalltĂ€gliche Worteâ, an das âwirkliche Lebenâ, den âwirklichen Ge-
dankenâ und âwirkliche Situationenâ eine eminent selbstkritische Note, die
Hartmut Böhme in anderem Zusammenhang betont hat : âMusil will die
transgressive RadikalitĂ€t der Novellen [âŠ] mit ihren den Autor fast tötenden
Wirkungen nicht wiederholen.â131
In stilistischer Hinsicht formuliert Musil sein persönliches Ideal gemÀà der
rhetorischen Forderung nach VerstÀndlichkeit und Klarheit (perspicuitas) :
âNicht in Stimmungen schwelgen, sondern trachten, die Sache begreiflich zu
machen ! So erzĂ€hlt ein anstĂ€ndiger Mensch.â (M II/1/142) FĂŒnf Jahre spĂ€-
ter, im bereits zitierten Fontana-Interview, erlĂ€utert er in Ăbereinstimmung
damit : âStil ist fĂŒr mich exakte Herausarbeitung eines Gedankens. Ich meine
den Gedanken, auch in der schönsten Form, die mir erreichbar ist.â (GW 7,
942) Dass dabei die BemĂŒhung um die gröĂtmögliche sprachliche Schönheit
nicht auf Kosten der Genauigkeit bzw. Exaktheit erfolgen darf, geht wiede-
rum aus den Notizen zur âErzĂ€hlungstechnikâ hervor, in denen er sich selber
dazu auffordert, âVergleiche nur zur Verdeutlichung, nie zur Verschönerungâ
(M II/1/142) zu verwenden. Entsprechendes hat Musil offenbar auch mĂŒnd-
lich geĂ€uĂert, wie ein von Wolfdietrich Rasch ĂŒberliefertes GesprĂ€ch zeigt :
âIch bin letzten Endes gar nicht imstande, die Form als solche wahrzuneh-
men. FĂŒr mich ist Form schon Inhalt. [âŠ] Form ist das, was sich auf andere
Weise nicht ausdrĂŒcken lĂ€Ăt.â132 Bei dieser Einsicht handelt es sich um ein
Resultat aus Musils intensiver BeschÀftigung mit der Gestalttheorie133, die
131 Böhme : Eine Zeit ohne Eigenschaften, S. 324.
132 Rasch : Erinnerung an Robert Musil, S. 15.
133 Vgl. dazu Bonacchi : Die Gestalt der Dichtung, S. 292â295 ; dies.: Was man alles in einem Auf-
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208