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176 Teil I: Grundlegung
âMan kommt gerade dann immer einen Schritt vorwĂ€rts, wenn man lĂŒgtâ
(MoE 148). Indem Ulrich die konstitutiven SelbsttÀuschungen seiner Zeit
und Gesellschaft nicht teilt, sondern sie zum Gegenstand seines analytischen
Spotts werden lÀsst, erweist sich seine charakteristische Ablehnung der Vor-
stellung von âEigentlichkeitâ und âEigenschaftlichkeitâ als einziger glaubhafter â
und in der Wirkung auf die Leserschaft somit âauthentischerâ26 â Weltzugang.
Die Auswirkungen von Ulrichs programmatischer âEigenschaftslosigkeitâ
auf sein LebensgefĂŒhl exponiert der ErzĂ€hler wie folgt :
Mit wenig Ăbertreibung durfte er [âŠ] von seinem Leben sagen, daĂ sich alles darin
so vollzogen habe, wie wenn es mehr zueinander gehörte als zu ihm. Auf A war
immer B gefolgt, ob das nun im Kampf oder in der Liebe geschah. Und so muĂte er
wohl auch glauben, daà die persönlichen Eigenschaften, die er dabei erwarb, mehr
zueinander als zu ihm gehörten, ja jede einzelne von ihnen hatte, wenn er sich genau
prĂŒfte, mit ihm nicht inniger zu tun als mit anderen Menschen, die sie auch besitzen
mochten. (MoE 148)
Was der offenbar intern fokalisierende ErzĂ€hler hier hinsichtlich der âpersön-
lichen Frage Ulrichsâ (MoE 150) auseinandersetzt â nĂ€mlich die Bezugslo-
sigkeit des Subjekts zu seinen korrelativen und konstitutiven âEigenschaftenâ
und jene gleichsam subjektlose Eigendynamik des Lebens, die durch die sozial
identifizierende Funktion des Eigennamens nur an der OberflÀche zusammen-
gehalten wird27 â, kann im Romankontext allgemeine Signifikanz fĂŒr den mo-
dernen Menschen beanspruchen :
26 Hermann Broch : Das Weltbild des Romans [1933], S. 100, bezeichnet den âan Geistigkeit alles
ĂŒberragende[n] Mann ohne Eigenschaften Musilsâ deshalb als modernes âHeldeneposâ, âbei
dessen Anblick die verschiedenen Triebe des Autors sowie des Lesers vermöge der Identifizie-
rung befriedigt werden.â
27 Vgl. Bourdieu : Die biographische Illusion, S. 78â80 : âDurch den Eigennamen, diese ganz eigen-
tĂŒmliche Form des Benennens, wird eine gleichbleibende und dauerhafte soziale IdentitĂ€t gesetzt,
die fĂŒr die IdentitĂ€t des biologischen Individuums in all den möglichen Feldern entsteht, in die
es als Akteur hineingerĂ€t, das heiĂt in allen seinen möglichen Lebensgeschichten. Der Eigen-
name [âŠ] steht zusammen mit der biologischen IndividualitĂ€t, deren sozial festgesetzte Form
er darstellt, dafĂŒr ein, daĂ die verschiedenen sozialen Akteure, welche die Erscheinungsformen
[âŠ] dieser IndividualitĂ€t in verschiedenen Feldern sind, ĂŒber die Zeit hinweg eine Konstanz und
ĂŒber die sozialen RĂ€ume hinweg eine Einheit aufweisen [âŠ]. Als Institution ist der Eigenname
der Zeit und dem Raum wie auch den orts- und zeitbedingten Variationen entzogen : Damit
sichert er den benannten Individuen ĂŒber alle VerĂ€nderungen und alle biologischen Fluktua-
tionen hinweg die nominelle Konstanz, die IdentitÀt im Sinne von IdentitÀt mit sich selbst, con-
stantia sibi, welche die soziale Ordnung verlangt. [âŠ] Da das, was er bezeichnet, immer nur
eine zusammengewĂŒrfelte und disparate Rhapsodie aus sich stĂ€ndig verĂ€ndernden biologischen
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208