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187Grundbegriffe
des Romankonzepts
Deren konditionierende Vorgehensweise hat ihrerseits Implikationen fĂŒr die
anthropologische Theoriebildung, wie der ErzÀhler des Mann ohne Eigen-
schaften weiĂ : âMan beginnt, es immer mehr als beschrĂ€nkt zu empfinden,
unwillkĂŒrlich erworbene Wiederholungsdispositionen einem Menschen als
Charakter zuzuschreiben und dann seinen Charakter fĂŒr die Wiederholungen
verantwortlich zu machen.â (MoE 252) Das mit der neuen Disziplin einherge-
hende pulverisierte Menschenbild, das im Hinblick auf fertig vorgeformte so-
ziale Rollenschablonen durchaus emanzipatorische Aspekte birgt, trifft im an-
thropologischen SelbstverstÀndigungsdiskurs des 20. Jahrhunderts allerdings
auf entschiedenen Widerstand â eine Erfahrung, die auch Musils Mensch
ohne Charakter machen muss, dessen âirrlichternder Geistâ zum Leidwesen
des ErzĂ€hlers allmĂ€hlich âfeste WĂ€nde und dicke Ăberzeugungenâ bekommt
(GW 7, 538).
An dieser Stelle erweist sich der heuristische Vorteil der keineswegs nur
begrifflichen, sondern auch konzeptionellen Differenz zwischen dem her-
kömmlichen interaktionistischen RollenverstÀndnis, das sich nicht allein der
Metaphorik nach aus dem Bereich des Theaters ableitet52, und jenem des stets
auf ein soziales Feld bezogenen Habitus53, wie ihn Bourdieu am Beispiel eines
Berufskellners beschrieben hat :
Der Kellner spielt nicht [âŠ] den Kellner. [âŠ] Sein Körper, dem eine Geschichte
innewohnt, schmiegt sich seiner Funktion an, das heiĂt einer Geschichte, einer Tra-
dition, die ihm stets in Körpern vor Augen trat, oder, besser : in diesen von einem
bestimmten Habitus bewohnten Habiten[54], die man Kellner nennt. Was nicht be-
deutet, daĂ er im Nachahmen von Kellnern, die damit ausdrĂŒcklich zu Vorbildern
52 Vgl. Dahrendorf : Homo Sociologicus, S. 22 ; dazu die Differenzierungen ebd., S. 23â28.
53 DemgegenĂŒber unterscheidet Dahrendorf eine âunberĂŒhrte IndividualitĂ€tâ des Einzelnen und
âdie an ihn gestellten Forderungen [âŠ] der Gesellschaft, in der er lebtâ (ebd., S. 27). Erstere
ist aus Bourdieus Sicht eine absurde Vorstellung. Auch Dahrendorf bindet âsoziale Rollenâ an
âsoziale Positionenâ zurĂŒck (vgl. S. 32), die er als âPunkte oder Orte in einem Koordinatensystem
sozialer Beziehungenâ definiert (S. 30), doch verwirft er die Annahme, dass die âIndividualitĂ€tâ
eines Akteurs âzwar nicht in irgendeiner einzelnen seiner sozialen Positionen, aber doch in de-
ren besonderer Konstellation begrĂŒndet istâ (S. 31). Aus liberaler Tradition bezeichnet er die
âTatsache der Gesellschaftâ sogar als âĂ€rgerlich, weil wir ihr nicht entweichen könnenâ (S. 27,
vgl. S. 20), weshalb es auch nicht ĂŒberrascht, wenn er im âVerhĂ€ltnis des Einzelnen zu seinen
sozialen Rollenâ bzw. in der âGeburt des homo sociologicus aus dem ganzen Menschenâ den Keim
von dessen âEntfremdung [âŠ] zum Schauspieler auf der BĂŒhne der Gesellschaftâ gesĂ€t sieht
(S. 53).
54 Vgl. Bourdieu : MĂ©ditations pascaliennes [frz. Originalfassung], S. 182 f.: âdans ces habits habitĂ©s
dâun certain habitusâ.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208