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188 Teil I: Grundlegung
erhoben worden wĂ€ren, gelernt hĂ€tte, Kellner zu sein. Er schlĂŒpft in die Haut der
Figur des Kellners nicht wie ein Schauspieler, der eine Rolle ĂŒbernimmt, sondern
eher so, wie ein Kind sich mit dem Vater identifiziert und, ohne im geringsten tun
zu mĂŒssen âals obâ, beim Sprechen eine bestimmte Mundstellung oder beim Gehen
eine Schulterbewegung ĂŒbernimmt, die ihm fĂŒr das soziale Sein des vollkommenen
Erwachsenen grundlegend scheinen. Man kann nicht einmal sagen, daĂ er sich fĂŒr
einen Kellner hÀlt, so vollstÀndig ist er von der Funktion beschlagnahmt, der er sozio-
logisch [âŠ] zugedacht war.55
Wie schon Musils âMensch ohne Charakterâ feststellen musste, ist der âBerufs-
charakterâ einem bloĂ auf InteraktionsverhĂ€ltnisse beschrĂ€nkten Blick oder
gar einem voluntaristischen KalkĂŒl nicht zugĂ€nglich, sondern unterliegt einem
ĂŒberindividuellen sozialen Zwang, der einem sozialen Raum bzw. Feld ent-
springt und diesem korrespondiert, indem er sich regelrecht in den Körper
einschreibt, also nicht mehr umstandslos abgelegt werden kann. Einem Intel-
lektuellen hingegen, der vorĂŒbergehend einmal âkellnertâ, ist
an tausend Merkmalen die Distanz anzusehen, die er eben dadurch, daĂ er die Funk-
tion als eine Rolle zu spielen vorgibt, ihr gegenĂŒber einzuhalten gedenkt â eine Funk-
tion, die nicht der (sozial konstruierten) Vorstellung entspricht, die er von seinem
Sein hat, das heiĂt von seinem sozialen Schicksal â und einem Beruf gegenĂŒber, fĂŒr
den er sich nicht geschaffen fĂŒhlt und in dem er sich [âŠ] nicht âeinschlieĂenâ lĂ€Ăt.56
Musils Mann ohne Eigenschaften kann als ein solcher Intellektueller gelten,
der sich allerdings konsequent dagegen strĂ€ubt, ĂŒberhaupt einem der sozial
vorgegebenen âBerufscharaktereâ zu entsprechen.57 Indem er weder âwie ein
Kaufmannâ noch wie âein Maler oder ein Diplomatâ aussieht, sondern allen-
falls âwie ein Mathematikerâ, der eben ânach gar nichtsâ ausschaut, sondern
nur âso allgemein intelligentâ, âdaĂ es keinen einzigen bestimmten Inhalt hatâ,
wie sein eifersĂŒchtiger Jugendfreund Walter in kritischer Absicht bemerkt
(MoE 64), verweigert er sich dem gesellschaftlichen âRollenzwangâ.58 Ul-
rich bleibt im sozialen âSpielâ stets des Rollenhaften eingedenk und vermag
es dergestalt kritisch zu durchleuchten. Durch seine âreservatio mentalisâ59
55 Bourdieu : Meditationen, S. 197. Vgl. dagegen Dahrendorf : Homo Sociologicus, S. 56â60.
56 Bourdieu : Meditationen, S. 197 f.
57 Nach Kremer : Die endlose Schrift, S. 440, bezeichnet der âBegriff der Eigenschaftslosigkeitâ ge-
nerell âden Verlust einer eindeutigen und verbindlichen sozialen Position der kulturellen Elitenâ.
58 Laermann : Eigenschaftslosigkeit, S. 9.
59 Ebd.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208