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192 Teil I: Grundlegung
EinschlÀgig ist hier im Roman etwa die bereits zitierte Beobachtung, wo-
nach es Menschen gebe, die âes nicht als ein nur persönliches Geschehnis,
sondern als eine Herausforderungâ ihrer âgeistigen Kraftâ ansehen, âdaĂ ein
Erlebnis seine Bedeutung, ja seinen Inhalt erst durch seine Stellung in einer
Kette folgerichtiger Handlungenâ erhalte (MoE 149). Eine solche intellektu-
elle BefĂ€higung zu kĂŒhler, distanzierter und von den eigenen BedĂŒrfnissen
und Projektionen absehender Diagnose genieĂt innerhalb der Vorkriegskultur,
in der Musils Romankosmos angesiedelt ist, allerdings gesellschaftlich kein
hohes Ansehen, wie der ErzĂ€hler scheinbar erstaunt vermerkt : â[W]under-
licherweise nennt man das, was man beim Boxen als ĂŒberlegene Geisteskraft
empfindet, nur kalt und gefĂŒhllos, sobald es bei Menschen, die nicht boxen
können, aus Neigung zu einer geistigen Lebenshaltung entsteht.â (MoE 149)
Das bezeichnende Zusammenspiel von scharfer IntellektualitÀt und unper-
sönlicher âKĂ€lteâ bzw. âGefĂŒhllosigkeitâ erhĂ€lt in den zwanziger und frĂŒhen
dreiĂiger Jahren, als Musil seinen Roman verfasst, indes eine ganz andere Vi-
rulenz, wie Helmut Lethen mit Blick auf neusachliche Lebensformen der Zwi-
schenkriegszeit gezeigt hat.69 Die angefĂŒhrten Ăberlegungen aus dem Mann
ohne Eigenschaften beziehen sich auf eine detachierte Geisteshaltung, die unter
anderem in der Tradition jenes âDonjuanismus der Erkenntnisâ steht,70 den
Nietzsche im § 327 seiner Schrift Morgenröthe. Gedanken ĂŒber die moralischen
Vorurtheile unter dem Stichwort Eine Fabel umreiĂt :
Der Don Juan der Erkenntniss : er ist noch von keinem Philosophen und Dichter
entdeckt worden. Ihm fehlt die Liebe zu den Dingen, welche er erkennt, aber er hat
Geist, Kitzel und Genuss an Jagd und Intriguen der Erkenntniss â bis an die höchsten
und fernsten Sterne der Erkenntniss hinauf ! â bis ihm zuletzt Nichts mehr zu erjagen
ĂŒbrig bleibt, als das absolut Wehethuende der Erkenntniss, gleich dem Trinker, der
am Ende Absinth und Scheidewasser trinkt. So gelĂŒstet es ihn am Ende nach der
Hölle, â es ist die letzte Erkenntniss, die ihn verfĂŒhrt. Vielleicht, dass auch sie ihn ent-
tĂ€uscht, wie alles Erkannte ! Und dann mĂŒsste er in alle Ewigkeit stehen bleiben, an
die EnttÀuschung festgenagelt und selber zum steinernen Gast geworden, mit einem
Verlangen nach einer Abendmahlzeit der Erkenntniss, die ihm nie mehr zu Theil
wird ! â denn die ganze Welt der Dinge hat diesem Hungrigen keinen Bissen mehr zu
reichen.71
69 Vgl. Lethen : Verhaltenslehren der KĂ€lte.
70 Vgl. Gödicke : Donjuanismus im Mann ohne Eigenschaften, S. 22 f.
71 Nietzsche : Morgenröthe, S. 232.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208