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196 Teil I: Grundlegung
zu suchenâ (MoE 47), wird sich nach den EnttĂ€uschungen, denen er im ers-
ten Romanbuch unterliegt, immer mehr in diese Richtung orientieren â doch
auch dann nicht im Sinn einer atavistischen, weil subjektivistisch gefassten
IndividualitĂ€t und âEigentlichkeitâ, wie noch die Ă€ltere Forschung postuliert.80
Die Behauptung menschlicher Gestalt- bzw. Eigenschaftslosigkeit hat
nicht nur individuell-persönliche, sondern auch allgemein-soziale Implikatio-
nen, wie bereits angedeutet wurde. Musil umschreibt sie mit der Formel âSei-
nesgleichen geschiehtâ (MoE 81, 357, 591 u. 1210) und fasst sie 1933 auf dem
âStudienblatt soziale Fragestellungâ folgendermaĂen zusammen : âDer kollo-
idale Mensch nimmt die Form der UmstÀnde an ; Geschehenlassen und GewÀh-
ren.â (MoE 1867) Dieses PhĂ€nomen, das zur Zeit der Niederschrift von Mu-
sils Ăberlegungen angesichts der fast widerstandslosen âMachtĂŒbernahmeâ
durch die Nationalsozialisten nicht nur â[a]ktuellâ, sondern zugleich auch
Ă€uĂerst besorgniserregend war, erzeugt fĂ€lschlicherweise den Anschein eines
Kollektivsubjekts, das die bloĂe Summe der Individuen transzendiere : â[E]ine
Nation guter Menschen kann grausam und tĂŒckisch seinâ ; dabei sei allerdings
zu bedenken : âNationen haben [âŠ] keine Absichten. [âŠ] Nationen haben
einen unzurechnungsfĂ€higen Geist. Richtiger : sie haben ĂŒberhaupt keinen
Geist.â (MoE 1867) Indem sie stĂ€ndig dem âBedĂŒrfnisâ nachgeben, âerregt
und einseitig zu seinâ, liege sogar der âVergleich mit Irrsinnigenâ (MoE 1867)
nahe. Angebracht scheint Musil deshalb eine kontrollierte Kanalisierung die-
ses irrationalen BedĂŒrfnisses, das keineswegs durch die von der Romanfigur
Feuermaul erhobene, rĂŒckwĂ€rtsgewandte und reichlich naive Forderung nach
einfacher âMenschenliebeâ stillzustellen sei (MoE 1867).81 Als aussichtsrei-
chere Möglichkeit des Umgangs mit dem Problem82 erwÀgt Musil die damals
aktuelle Disziplin der Psychotechnik, die auf die âForderung einer Systematik
des Zusammenlebensâ hinauslaufe : âPsychotechnik der Kollektive. Das wĂ€re
die atheistische und bescheidenere Lösung.â (MoE 1867) Die wissenschaft-
lich gestĂŒtzte, aber anwendungsbezogene Disziplin wird hier hypothetisch
als Methode diskutiert, ethische bzw. nationale Konflikte zu entschĂ€rfen â
und kann somit bei zynischer Betrachtung auch als Mittel erscheinen, den
Weltkrieg in Form eines BĂŒrgerkriegs bloĂ âin geordnete Bahnenâ zu lenken,
80 Vgl. etwa Goltschnigg : Die Bedeutung der Formel âMann ohne Eigenschaftenâ, S. 344 f., bes.
aber Schmidt : Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 2, S. 296â298.
81 Vgl. dazu die einschlÀgigen Abschnitte in Kap. II.2.1, II.3.2 u. III.1.1.
82 Die zentrale Bedeutung dieser Thematik fĂŒr den Roman geht auch aus folgender Gleichung
hervor : âDas Problem ist identisch mit dem des richtigen LebensgefĂŒhls.â (MoE 1867) Der
Bezug zur Frage âdes rechten Lebensâ, die Ulrich so beschĂ€ftigt (vgl. MoE 255), ist nicht von der
Hand zu weisen.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208