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201Grundbegriffe
des Romankonzepts
âMöglichkeitssinnâ nicht bloĂ eine romaneske Erfindung, sondern liegt in der
Wirklichkeit selbst begrĂŒndet und muss dort nur aufgedeckt bzw. aktiviert
werden. Die moderne RealitÀt, die in ihrer Wissenschaftlichkeit vollkommen
abstrakt geworden zu sein scheint und das âeiserne GehĂ€use der RationalitĂ€tâ
(Max Weber) bezogen hat, wird somit im essayistischen Roman gegen alle
Suggestionen der Alltagserfahrung auf das Potenzial eines polyvalenten An-
dersseins hin durchleuchtet. Damit steht Musils Konzept jenseits von reinem
Rationalismus wie auch von jener Romantik, die sich gegen die Verwissen-
schaftlichung der modernen Welt zu formieren suchte. Die RealitÀt selbst gilt
es in ihrer QualitĂ€t als ontologisch kontingente âErfindungâ offenzulegen.
Es handelt sich beim Musilâschen âMöglichkeitssinnâ nĂ€mlich expressis ver-
bis um eine auf die Ă€uĂere RealitĂ€t bezogene96 âschöpferische[ ] Anlageâ, um
âeinen Bauwillen und bewuĂten Utopismus, der die Wirklichkeit nicht scheut,
wohl aber als Aufgabe und Erfindung behandeltâ (MoE 16). Die offensive Hal-
tung gegenĂŒber der Wirklichkeit, die âdas Gegebene als Postulat begreiftâ97,
ist von entscheidender Bedeutung, denn : âDas Mögliche umfaĂt [âŠ] nicht
nur die TrÀume nervenschwacher Personen, sondern auch die noch nicht er-
wachten Absichten Gottes.â (MoE 16) In immer neuen AnlĂ€ufen grenzt sich
Musils ErzĂ€hler von der âschwache[n] Spielartâ des âMöglichkeitssinnsâ ab,
âwelche die Wirklichkeit nicht begreifen kann oder ihr wehleidig ausweicht,
wo also das Fehlen des Wirklichkeitssinns wirklich einen Mangel bedeutetâ
(MoE 16). Er kritisiert damit unmissverstÀndlich jene realitÀtsferne Form ro-
mantischer Innerlichkeit98, die sich einer kritischen Kenntnisnahme der Àu-
Ăeren, sozialen und wissenschaftlich verbĂŒrgten Wirklichkeit verweigert99,
zugleich aber auch die implizite NormativitÀt des Faktischen im Sinne der
realistischen Poetik und vollzieht damit wiederum einen âdoppelten Bruchâ :
Es ist die Wirklichkeit, welche die Möglichkeiten weckt, und nichts wÀre so verkehrt,
wie das zu leugnen. Trotzdem werden es in der Summe oder im Durchschnitt immer
die gleichen Möglichkeiten bleiben, die sich wiederholen, so lange bis ein Mensch
kommt, dem eine wirkliche Sache nicht mehr bedeutet als eine gedachte. Er ist es,
96 Vgl. Wiegmann : Musils Utopiebegriff und seine literaturtheoretischen Konsequenzen,
S. 311, der in diesem Zusammenhang auf âdas aufklĂ€rerische Erbeâ verweist.
97 Schöne : Zum Gebrauch des Konjunktivs bei Musil, S. 25.
98 Vgl. dagegen Kremer : Parallelaktion, S. 23 f.
99 Dass die soziale Wirklichkeit nicht einfach zu eskamotieren ist, zeigt auch Musils Bei-
spiel von jenem AnhĂ€nger des Möglichkeitssinns, der, âwenn man ihm eine Geliebte fort-
nimmtâ, âheute noch nicht ganz von der Wirklichkeit dieses Vorgangs absehen und sich mit
einem ĂŒberraschenden, neuen GefĂŒhl entschĂ€digenâ könne (MoE 18).
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208