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202 Teil I: Grundlegung
der den neuen Möglichkeiten erst ihren Sinn und ihre Bestimmung gibt, und er er-
weckt sie. (MoE 17)
Das intrikate VerhÀltnis von RealitÀt und Möglichkeit liegt also in der darzu-
stellenden modernen Wirklichkeit selbst begrĂŒndet und wird vom essayisti-
schen ErzÀhler nur sichtbar gemacht. Er ist sich der Problematik einer aus
dieser Erkenntnis resultierenden Lebenshaltung durchaus bewusst :
Ein solcher Mann ist aber keineswegs eine sehr eindeutige Angelegenheit. Da seine
Ideen, soweit sie nicht mĂŒĂige Hirngespinste bedeuten, nichts als noch nicht gebo-
rene Wirklichkeiten sind, hat natĂŒrlich auch er Wirklichkeitssinn ; aber es ist ein Sinn
fĂŒr die mögliche Wirklichkeit und kommt viel langsamer ans Ziel als der den meisten
Menschen eignende Sinn fĂŒr ihre wirklichen Möglichkeiten. (MoE 17)
Eine trÀumerische Weltflucht im Sinne wirklichkeitsferner Phantastik oder
auch nur eine Abwendung von den GrundsÀtzen der Logik und Mathema-
tik100 und von der âProsaâ der Ă€uĂeren VerhĂ€ltnisse ins Innere des geheiligten
Subjekts101, die dem seinerzeit gÀngigen Bild der Romantik entsprÀche102, ist
seine Sache also nicht. Es handelt sich bei dem vom ErzÀhler propagierten
âMöglichkeitssinnâ letztlich um einen kreativen âWirklichkeitssinn, den man
100 Vgl. Schlegel : AthenĂ€ums-Fragmente, Nr. 400, zu einem zukĂŒnftigen romantischen âSkeptizis-
musâ, der auf die âlogische Krankheitâ gedanklicher âKonsequenzâ verzichten mĂŒsse : âRespekt
vor der Mathematik und Appellieren an den gesunden Menschenverstand sind die diagnosti-
schen Zeichen des halben unechten Skeptizismus.â (S. 75 f.) â Dies unbeschadet der Tatsache,
dass es auch zahlreiche anderslautende ĂuĂerungen der Romantiker (gerade der zitierten)
ĂŒber Mathematik und Logik gibt ; dazu Schöne : Zum Gebrauch des Konjunktivs bei Musil,
S. 34.
101 Vgl. Novalis : Fragmente und Studien, Nr. 337 : âPoĂ«sie ist Darstellung des GemĂŒths â der innern
Welt in ihrer Gesamtheit.â (S. 810) WĂ€hrend Novalis im Fragment Nr. 356 die rationale âGabe
der Unterscheidung, das reine trennende Urtheilâ des âVerstandesâ als âMischung von widriger
Wahrheit und beleidigendem Irrthumâ versteht, gilt ihm die Dichtung als Konsolationsme-
dium : âDie Poesie heilt die Wunden, die der Verstand schlĂ€gt. Sie besteht gerade aus entgegen-
gesetzten Bestandteilen â aus erhebender Wahrheit und angenehmer TĂ€uschung.â (S. 813 f.)
Vgl. auch Nr. 434 : âDer Sinn fĂŒr PoĂ«sie hat viel mit dem Sinn fĂŒr Mystizism gemein. [âŠ] Er
sieht das Unsichtbare, fĂŒhlt das UnfĂŒhlbare etc. [âŠ] Der Dichter ist wahrhaft sinnberaubt â da-
fĂŒr kommt alles in ihm vor. [âŠ] Der Sinn fĂŒr P[oĂ«sie] hat nahe Verwandtschaft mit dem Sinn
der Weissagung und dem religiösen, dem Sehersinn ĂŒberhaupt.â (S. 840) Gleichwohl â und das
sei keineswegs geleugnet â zeigt sich auch Musils Poetik und Ăsthetik besonders am âinneren
Menschenâ bzw. am ânicht-ratioĂŻdenâ Gebiet interessiert (GW 8, 1028 f.) und nĂ€hert sich darin
der romantischen Innerlichkeit an ; mehr dazu unten.
102 Zur romantischen âWeltfluchtâ vgl. etwa Hofmannsthal : Das Schrifttum als geistiger Raum der
Nation, S. 39 : Die âRomantikâ habe irrtĂŒmlich gewĂ€hnt, âdem Leben entfliehenâ zu können.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208