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203Grundbegriffe
des Romankonzepts
auch Möglichkeitssinn nennen kannâ (MoE 17). Ulrich selbst macht etwa bei
seinem Besuch am kaiserlichen Hof die Erfahrung, dass die bestehende Welt
âĂŒberraschend wirklichâ (MoE 86) zu sein vermag und ihre bloĂe Leugnung
nicht weit fĂŒhrt. Erst die schonungslose Analyse der herrschenden Wirklich-
keit erlaubt deren Ăberwindung im Sinne eines âbewussten Utopismusâ, der
sich keineswegs in einer Philosophie der Transzendenz oder gar im chiliasti-
schen Entwurf eines zukĂŒnftigen Schlaraffenlandes (nach Art der totalitĂ€ren
Ideologien des 20. Jahrhunderts) erschöpfen darf. Im Gegenteil : Ein Inhaber
des âMöglichkeitssinnsâ unterscheidet sich deutlich von den TrĂ€umern und
Kompensatoren ; er gibt seiner Umgebung immer wieder RĂ€tsel auf :
Ein unpraktischer Mann â und so erscheint er nicht nur, sondern ist er auch â bleibt
unzuverlÀssig und unberechenbar im Verkehr mit Menschen. Er wird Handlungen
begehen, die ihm etwas anderes bedeuten als anderen, aber beruhigt sich ĂŒber alles,
sobald es sich in einer auĂerordentlichen Idee zusammenfassen lĂ€Ăt. Und zudem ist
er heute von Folgerichtigkeit noch weit entfernt. Es ist etwa sehr leicht möglich, daĂ
ihm ein Verbrechen, bei dem ein anderer zu Schaden kommt, bloĂ als eine soziale
Fehlleistung erscheint, an der nicht der Verbrecher die Schuld trÀgt, sondern die Ein-
richtung der Gesellschaft. (MoE 17)
Durch Formulierungen wie diese wird Ulrichs WeltverhĂ€ltnis â seine intellek-
tuelle Haltung und sein sozialer Umgang â aufs Genaueste bezeichnet ; auch
seine spezifische Sicht auf den Fall Moosbrugger scheint hier schon prÀfigu-
riert. Entscheidend ist dabei, dass der âMöglichkeitssinnâ die bestehende Reali-
tÀt stets unter dem Gesichtspunkt ihrer VerÀnderlichkeit wahrnimmt, ohne je-
doch auf eine ganz bestimmte, ideologisch festgefĂŒgte Zukunft hinzuarbeiten,
wie auch ein nachgelassener Kapitelentwurf zeigt, der Ende der zwanziger
Jahre entstanden ist :
Was heute böse ist, wird morgen vielleicht zum Teil schon gut sein, und das Schöne
hĂ€Ălich, unbeachtete Gedanken werden zu groĂen Ideen geworden sein, und wĂŒrde-
volle der GleichgĂŒltigkeit verfallen. Jede Ordnung ist irgendwie absurd und wachsfi-
gurenhaft, wenn man sie zu ernst nimmt, jedes Ding ist ein erstarrter Einzelfall seiner
Möglichkeiten. Aber das sind nicht Zweifel, sondern es ist eine bewegte, elastische
Unbestimmtheit, die sich zu allem fĂ€hig fĂŒhlt. (MoE 1509, nach der blauen Nachlass-
mappe 46/II III 30â32/I)
Als Grundvoraussetzung fĂŒr einen solchen essayistischen Blick auf die Welt
etabliert Musil eine Art von âEigeninteresselosigkeitâ bzw. âUneigennĂŒt-
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208