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204 Teil I: Grundlegung
zigkeitâ des Betrachters, wie sein ErzĂ€hler ausdrĂŒcklich hervorhebt : âEs ist
aber eine EigentĂŒmlichkeit dieser Erlebnisse, daĂ sie fast immer nur in ei-
nem Zustand des Nichtbesitzes erlebt werden.â (MoE 1509, nach der blauen
Nachlassmappe 46/II III 30â32/I) Der Mann ohne Eigenschaften erscheint
dementsprechend als Mensch, âder auch sich selbst gegenĂŒber keinen Wirk-
lichkeitssinn aufbringtâ (MoE 18) â zumindest nicht im Sinn eines eigennĂŒtzi-
gen Interesses.103 Indem Musil den solcherart konzipierten âMöglichkeitssinnâ
seinem gesamten Romankonzept als zweite Basiskategorie (neben der âEigen-
schaftslosigkeitâ) zugrunde legt, betreibt er konsequent die Aufdeckung der
fundamentalen Struktur dessen, was Bourdieu als Prinzip der âromanesken
Illusionâ beschrieben hat :
In der Wirklichkeit wie in den Romanen sind die sogenannten romanesken Gestal-
ten, zu denen man auch die Autoren von Romanen zĂ€hlen muĂ [âŠ], vielleicht jene,
die die Fiktion nicht deshalb ernst nehmen, um, wie es heiĂt, der RealitĂ€t zu entflie-
hen und ein Entkommen in imaginĂ€re Welten zu suchen, sondern weil es ihnen [âŠ]
nicht gelingt, die RealitĂ€t ernst zu nehmen ; weil sie auĂerstande sind, das GegenwĂ€r-
tige sich so zu eigen zu machen, wie es sich prÀsentiert, das GegenwÀrtige in seiner
insistierenden und dadurch Schreck auslösenden PrÀsenz.104
Musils Mann ohne Eigenschaften, der die Wirklichkeit stets ironisch bzw. un-
ter dem Gesichtspunkt ihrer VerÀnderlichkeit sieht, erweist sich vor diesem
Hintergrund als gleichsam idealtypischer Romanheld, als konzentrierte Aus-
formung der romanesken Figur schlechthin. Charakteristisch dafĂŒr ist bei ihm
das Fehlen der sozialen illusio, jener âInvestition ins Spiel und die affektive
Besetzung des Spielsâ, die Bourdieu zufolge dem âFunktionieren aller sozia-
len Felder, dem der Literatur wie der Machtâ, zugrunde liegt.105 Auch Ulrich
gelingt es nicht, âin eines der Spiele der Kunst wie des Geldes, die die soziale
Welt produziert und vorlegt, sich selbst einzubringenâ. Die von Bourdieu an
Flauberts Romanhelden konstatierte âUnfĂ€higkeit, das Reale ernst zu nehmen,
103 Wie Schöne : Zum Gebrauch des Konjunktivs bei Musil, S. 20, anhand von exemplarischen
Satzanalysen aus dem Mann ohne Eigenschaften zeigt, âsind der ErzĂ€hler und seine Figuren
geneigt, auch die eigene Meinung, eigene Ăberlegung konjunktivisch zu fassen. [âŠ] Solche
Konjunktive setzen die ĂuĂerung gleichsam in Klammern. Sie bezeichnen eine vorsichtige Zu-
rĂŒckhaltung im Denken und Sprechen, die nichts als unabĂ€nderliche, gewisse Tatsache nimmt,
sondern die Satzaussage zur ErwĂ€gung stellt : sie gewissermaĂen versuchs- und probeweise
behandelt und andere Möglichkeiten offenlĂ€Ăt.â
104 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 68.
105 Ebd.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208