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205Grundbegriffe
des Romankonzepts
das heiĂt die EinsĂ€tze der sogenannten ernsten Spieleâ106, kennzeichnet so-
mit auch Musils Protagonisten â dies aber in freilich ganz anderer Weise als
jenen Flauberts, wie noch zu zeigen sein wird. Im Ersten Buch des Romans
verweigert sich Ulrich trotz seiner vordergrĂŒndigen Teilnahme an den Treffen
der Parallelaktion der ihn umgebenden gesellschaftlichen Wirklichkeit letzt-
lich vollstĂ€ndig, und im kaum versöhnlicheren Zweiten Buch, nach der âAna-
gnorisisâ mit Agathe, wird er seine affektiven und intellektuellen Investitionen
ausschlieĂlich auf die sozial diskriminierte Geschwisterliebe konzentrieren.
Wie bereits angedeutet, entspringt die geschwisterliche Verweigerungshal-
tung gegenĂŒber der gesellschaftlichen RealitĂ€t einer Ablehnung der Vorstel-
lung vom Vollendetsein der gegebenen Welt bzw. einer kompromisslosen
ZurĂŒckweisung jeder Form von wirklichkeitsbejahender und -legitimierender
âSoziodizeeâ.107
Ulrich hat dafĂŒr die Formel vom âPDUGâ (MoE 134), dem âPrinzip des un-
zureichenden Grundesâ (MoE 133) gefunden, das die Welt von Musils Roman
tatsĂ€chlich ĂŒber weite Strecken prĂ€gt und dessen kritische Implikationen vom
ErzÀhler durchaus selbst vertreten werden. Dieses im Mann ohne Eigenschaften
vorherrschende Prinzip der Handlungsmotivierung bedeutet in seiner Aus-
richtung auf geschichtsphilosophische Kontingenz keineswegs eine völlige Be-
liebigkeit der gesellschaftlichen und historischen RealitÀt, wie sie von Vertre-
tern der Postmoderne suggeriert wurde.108 Es richtet sich im Gegenteil ganz
konkret gegen das kausalistische âPrinzip des zureichenden Grundesâ (MoE
134), auf dessen Basis (sowie auf jener des Satzes vom auszuschlieĂenden Wi-
derspruch) Gottfried Wilhelm Leibniz, der âStammvater der Philosophie in
Ăsterreichâ, âder von 1712 bis 1714 als GĂŒnstling des Prinzen Eugen in Wien
lebteâ109, zu Beginn des 18. Jahrhunderts seine Theodizee-Vorstellung errichtet
hatte110 â also die Lehre, die bestehende Welt sei die âbeste aller möglichen
106 Ebd.
107 Bourdieu : Der Rassismus der Intelligenz, S. 252, definiert âSoziodizeeâ u. a. als Versuch der
âHerrschendenâ, âeine, wie Weber sagt, âTheodizee ihres eigenen Privilegsâ zu produzieren, das
heiĂt eine Rechtfertigung der von ihnen beherrschten sozialen Ordnungâ. Genaueres dazu in
Bourdieu : Der Staatsadel, S. 322 f.; vgl. auch ebd., S. 94, wo âSoziodizeeâ bĂŒndig als âRechtfer-
tigung der Gesellschaftâ bezeichnet wird.
108 Vgl. dazu die Bemerkungen im zweiten Teil der Einleitung zu vorliegender Arbeit.
109 Johnston : Ăsterreichische Kultur- und Geistesgeschichte, S. 279. âHier hat er seine Monadologie
und Principes de la nature et de la grĂące (1718) geschrieben.â Mehr zur spezifisch österreichischen
Adaptation der Leibnizâschen Philosophie ebd., S. 279â319.
110 Leibniz : Die Theodizee, Tl. II, § 175, spricht von âle grand principe de la raison dĂ©termi-
nanteâ (Bd. 1, S. 514), zu Deutsch : âdas groĂe Prinzip des bestimmenden [bzw. âzureichendenâ,
N. C. W.] Grundesâ (Bd. 1, S. 515). Im Tl. III, § 349, hĂ€lt er fest, dass ein PhĂ€nomen nicht exis-
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208