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221Grundbegriffe
des Romankonzepts
Wissens-schaft [sic]. Auf der andern Seite das Gebiet des Lebens[158] und der
Kunst. Man kann es zunĂ€chst nicht genauer sagen.â (GW 8, 1334) Um sich
seinem Gegenstand trotzdem vorsichtig zu nÀhern, beschreitet Musil auch
hier den Weg zweifacher Abgrenzung, indem er zunĂ€chst ĂŒberlegt, was der
Essay nicht ist :
Wir mĂŒssen daher zuerst fragen, wie das Gebiet der Wissenschaft umgrenzt ist. FĂŒr
unseren Zweck sagen wir nicht[159] am besten : es schaltet die SubjektivitÀt völlig
aus. Völlig ist zuviel gesagt. Denn eine gewisse kalte, rationale SubjektivitÀt bleibt
gewahrt ; auch gibt es willkĂŒrliche und zufĂ€llige Momente. Sondern wir sagen besser :
seine Ergebnisse sind objektiv. Es ist von dem Kriterium der Wahrheit beherrscht.
Dieses ist ein gegenstÀndliches Kriterium, es liegt in der Natur des Gebiets. Es gibt
mathematische und logische Wahrheiten. Es gibt Tatsachen und eine VerknĂŒpfung
von Tatsachen, die allgemeingĂŒltig sind. Die gesetzlich sind oder systematisch. In bei-
den FĂ€llen â und zugleich ist das der mindeste Anspruch, den wir daran stellen â die
eine weitreichende geistige Ordnung zulassen. (GW 8, 1334 f.)
Dem gegenĂŒber stehen nun die âGebieteâ der Dichtung, die nach völlig ande-
ren Gesetzen funktionieren und âeine solche Ordnung nicht zulassenâ, ohne
aber dem Diltheyâschen âVerstehensâ-Begriff zu entsprechen160 :
Man löse aus den BĂŒchern der Dichter die Menschen los, die sie hineingezaubert ha-
ben, und versuche auf diese Gesellschaft die moralischen Gesetze der menschlichen
Gesellschaft anzuwenden. Man wird finden, daĂ jeder Buchmensch aus mehreren
Menschen besteht, daĂ er gut und verwerflich zugleich ist, daĂ er keinen Charakter
hat, inkonsequent ist, nicht kausal handelt : Kurz, daà man die moralischen KrÀfte,
die ihn bewegen, in keiner Weise ordnen und einordnen kann. Man kann diesem
Menschen keinen andren Weg weisen als den Zufallsweg der Handlung des Buchs.
(GW 8, 1335)
Hinsichtlich des Bereichs der Literatur sei freilich zu bedenken, âdass nicht
nur die Menschen des Buchs, sondern auch die realen Menschen sich nicht
158 Wenig spĂ€ter prĂ€zisiert Musil : âDer Ausdruck vom Leben ist nicht richtig, denn er umfaĂt
auch das Gesetzliche. Das was im Leben der Kunst analog ist, wurde oben mit dem Gebiet des
Lebens gemeintâ (GW 8, 1335, nach M IV/1/4).
159 Wie die Transkription des Manuskripts belegt, hat Musil diese Negation nachtrĂ€glich eingefĂŒgt,
bevor er mit dem nÀchsten Satz fortfuhr (vgl. M IV/1/4). Die umsichtige Vorgehensweise zeigt
wiederum, wie er stets darum bemĂŒht war, möglichst akkurate Formulierungen zu finden.
160 Vgl. NĂŒbel : Essayismus als Selbstreflexion der Moderne, S. 153.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208