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232 Teil I: Grundlegung
heben187, benennt Musils ErzÀhler einen weiteren wichtigen Aspekt des
essayistischen Programms, nÀmlich dessen utopische Dimension, die er an
folgendem drastischen Beispiel veranschaulicht :
Die Gehilfin in einem Krankenhaus, die, blĂŒtenweiĂ gekleidet, den Kot eines Pati-
enten in einem weiĂen PorzellanschĂŒsselchen mit helfenden SĂ€uren zu einem pur-
purfarbenen Aufstrich verreibt, dessen richtige Farbe ihre Aufmerksamkeit belohnt,
befindet sich schon jetzt, auch wenn sie es nicht weiĂ, in einer wandelbareren Welt
als die junge Dame, die vor dem gleichen Gegenstand auf der StraĂe erschauert.
(MoE 251)
Bekanntlich lassen sich im Werkkomplex des Mann ohne Eigenschaften neben
der âUtopie des Essayismusâ (MoE 247) noch mindestens vier weitere mehr
oder weniger explizit benannte Utopien188 ausmachen, nĂ€mlich â in der Rei-
henfolge ihrer Bedeutung fĂŒr den Romanfortgang â die des âexakten Lebensâ
(MoE 244 u. 304) bzw. der âExaktheitâ (MoE 247 ; M II/8/251â253 u. 255)189,
187 Mehr dazu bei Frey : Musils Essayismus, S. 239 f.
188 Zu Musils BegriffsverstĂ€ndnis vgl. das Romankapitel I/61 : âUtopien bedeuten ungefĂ€hr so viel
wie Möglichkeiten ; darin, daĂ eine Möglichkeit nicht Wirklichkeit ist, drĂŒckt sich nichts an-
deres aus, als daà die UmstÀnde, mit denen sie gegenwÀrtig verflochten ist, sie daran hindern,
denn andernfalls wÀre sie ja nur eine Unmöglichkeit ; löst man sie nun aus ihrer Bindung und
gewĂ€hrt ihr Entwicklung, so entsteht die Utopie.â (MoE 246)
189 Zur Verbindung von Exaktheit und Essayismus vgl. die unmittelbare Fortsetzung der in der
vorangehenden Anmerkung zitierten Passage : âIst nun das beobachtete Element die Exaktheit
selbst, hebt man es heraus und lĂ€Ăt es sich entwickeln, betrachtet man es als Denkgewohnheit
und Lebenshaltung und lĂ€Ăt es seine beispielgebende Kraft auf alles auswirken, was mit ihm
in BerĂŒhrung kommt, so wird man zu einem Menschen gefĂŒhrt, in dem eine paradoxe Verbin-
dung von Genauigkeit und Unbestimmtheit stattfindet. Er besitzt jene unbestechliche gewollte
KaltblĂŒtigkeit, die das Temperament der Exaktheit darstellt ; ĂŒber diese Eigenschaft hinaus ist
aber alles andere unbestimmt.â (MoE 246 f.) Die Reflexion von Musils ErzĂ€hler erinnert an
Thomas S. Kuhns Beschreibung eines kognitiven Vermögens, das man in Analogie zur Termi-
nologie des Mann ohne Eigenschaften als âĂhnlichkeitssinnâ bezeichnen könnte ; vgl. Kuhn : Neue
Ăberlegungen zum Begriff des Paradigma, S. 401 f. Demnach lernen Wissenschaftler Ă€hnliche
Probleme an unterschiedlichen Beispielen zu erkennen und zu lösen, um die abstrakte Formel,
die alle FĂ€lle in sich begreift, ĂŒberhaupt erst zu verstehen. Es gibt also eine kognitive Haltung,
die nicht mit dem Erlernen einer abstrakten Formel gleichzusetzen ist, sondern habitualisiert
werden muss. Die Verbindungen innerhalb dieses Von-Fall-zu-Fall-Lernens sind nicht iden-
tisch mit der abstrakten Formel des Paradigmas, ermöglichen aber erst ihre Evidenz. Demge-
genĂŒber versucht Musils Essayismus zu zeigen, wie in der Wissenschaft oft eine disziplinĂ€re
Einengung des âĂhnlichkeitssinnsâ auf ein bestimmtes formelhaftes Paradigma hin stattfindet,
welches die Möglichkeit eines Bruchs mit ebenjenem Paradigma gerade verhindert. Der skiz-
zierte Sachverhalt fĂŒhrt in der Wissenschaft zu einer problematischen Ontologisierung der
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208