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234 Teil I: Grundlegung
gerissen worden ist, weiĂ das ; man hat es ihr bisher bloĂ nicht geglaubt, weil
man keinen Platz fĂŒr diesen Glauben hatte.â (MoE 251 f.) Als Basis mögli-
cher Differenzierungen innerhalb eines solchen Zustands höchster affektiver
Erregtheit bei âunzureichendem Grundâ lĂ€sst der relational argumentierende
ErzÀhler nur quantitative Unterschiede gelten, die in ihrer Gesamtheit wiede-
rum auf einen ausgleichenden âMittelwert und Mittelzustandâ (MoE 251)193
hinauslaufen :
Die Psychiatrie nennt die groĂe Heiterkeit eine heitere Verstimmung[194], als ob sie
heitere Unlust wĂ€re, und hat erkennen lassen, daĂ alle groĂen Steigerungen, die der
Keuschheit wie der Sinnlichkeit, der Gewissenhaftigkeit wie des Leichtsinns, der
Grausamkeit wie des Mitleidens ins Krankhafte mĂŒnden ; wie wenig wĂŒrde da noch
das gesunde Leben bedeuten, wenn es nur einen mittleren Zustand zwischen zwei
Ăbertreibungen zum Ziel hĂ€tte ! Wie dĂŒrftig wĂ€re es schon, wenn sein Ideal wirklich
nichts anderes als die Leugnung der Ăbertreibung seiner Ideale wĂ€re ! ? Solche Er-
193 Ulrich thematisiert nicht nur die Implikationen der Wahrscheinlichkeitstheorie fĂŒr moralische
Fragestellungen, sondern auch jene der theoretischen Physik â etwa der kinetischen WĂ€rme-
theorie (vgl. M V/5/75), deren âstatistische Gesetzeâ Musil spĂ€ter unter Verweis auf Erwin
Schrödinger folgendermaĂen skizziert hat : âBei physikalischen und chemischen VorgĂ€ngen
Fortschreiten von relativ geordneten ZustÀnden der Atom- und MolekularschwÀrme zu we-
niger geordneten. Wie zu erwarten, wenn jedes Glied der Masse ohne eindeutigen Zwang
seinen Weg verfolgte. Die beobachteten Gesetze sind statistische Gesetze wie an jeder Mas-
senmischung und umso deutlicher, je gröĂer die Zahl der Einzelindividuen ist. Und zwar be-
sonders dann, wenn sich das einzelne Individuum zufallsbestimmt benimmt. Fortschreiten von
der Ordnung zur Unordnung ist das Obergesetz alles Geschehens. Der Folgezustand geht wie
bei völliger ZufĂ€lligkeit des Einzelgeschehens mit erdrĂŒckender Wahrscheinlichkeit aus dem
Anfangszustand hervor.â (M V/5/76) Erkenntnisse wie diese ĂŒbertrĂ€gt Ulrich wiederholt auf
den sozialen Bereich und gelangt dabei zu einem zugleich beruhigenden und beÀngstigen-
den Ergebnis : âNehmen wir an, daĂ es im Moralischen genau so zugehe wie in der kineti-
schen Gastheorie : alles fliegt regellos durcheinander, jedes macht, was es will, aber wenn man
berechnet, was sozusagen keinen Grund hat, daraus zu entstehen, so ist es gerade das, was
wirklich entsteht ! Es gibt merkwĂŒrdige Ăbereinstimmungen ! Nehmen wir also auch an, eine
bestimmte Menge von Ideen fliegt in der Gegenwart durcheinander ; sie ergibt irgendeinen
wahrscheinlichsten Mittelwert ; der verschiebt sich ganz langsam und automatisch, und das
ist der sogenannte Fortschritt oder der geschichtliche Zustand ; das Wichtigste aber ist, daĂ es
dabei auf unsere persönliche, einzelne Bewegung gar nicht ankommt, wir können rechts oder
links, hoch oder tief denken und handeln, neu oder alt, unberechenbar oder ĂŒberlegt : es ist fĂŒr
den Mittelwert ganz gleichgĂŒltig, und Gott und Welt kommt es nur auf ihn an, nicht auf uns !â
(MoE 491 ; vgl. Tb 1, 633)
194 TatsÀchlich sind im Sachregister von Bleuler : Lehrbuch der Psychiatrie, S. 546, nur epilep-
tische, konstitutionelle, manische, melancholische, oligophrene und reizbare Verstimmungen
verzeichnet, nicht aber âheitereâ.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208