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244 Teil I: Grundlegung
aber sie werden als neue Menschen in neuen Zukunftsapparaten genau so dasitzen,
â fĂŒhlte er und empörte sich gegen dieses wehrlose Hinnehmen von VerĂ€nderungen
und ZustÀnden, die hilflose Zeitgenossenschaft, das planlos ergebene, eigentlich men-
schenunwĂŒrdige Mitmachen der Jahrhunderte [âŠ]. (MoE 360)
Aus diesen Reflexionen und EindrĂŒcken Ulrichs spricht keineswegs jene
ge schichtsvergessene Schicksalsergebenheit oder gar postmoderne Belie-
bigkeit, die ihm zugeschrieben wurde, sondern im Gegenteil ein leiden-
schaftliches Aufbegehren gegen das bereits erwÀhnte Problem des passiven
âGeschehenlassen[s] u[nd] GewĂ€hren[s]â (MoE 1867). Musils ErzĂ€hler bemerkt
im Sinne eines aktiven essayistischen Eingreifens in die scheinbar vollkommen
selbstregulierende Autopoiesis der historischen Welt, dass âWeltgeschichte
zweifellos ebenso entsteht wie alle anderen Geschichten. Es fÀllt den Autoren
nichts Neues ein, und sie schreiben einer vom anderen ab. Das ist der Grund,
warum alle Politiker Geschichte studieren, statt Biologie oder dergleichen.â
(MoE 360) Legt man Aristotelesâ topische Unterscheidung zwischen Ge-
schichtsschreibern und Dichtern zugrunde, wonach jenen die Mitteilung des
âwirklich Geschehenenâ und diesen die des Möglichen zustehe215, wird die von
Musils ErzÀhler behauptete fatale Auswirkung einer Versenkung der Politiker
in das Geschichtsstudium auf das phantasielos geschehende âSeinesgleichenâ
der herrschenden Wirklichkeit nicht ĂŒberraschen. Allerdings wissen auch der
ErzĂ€hler und sein Protagonist : âGröĂtenteils entsteht Geschichte aber ohne
Autoren. Sie entsteht nicht von einem Zentrum her, sondern von der Peri-
pherie. Aus kleinen Ursachen. [âŠ] Das Gesetz der Weltgeschichte â fiel ihm
dabei ein â ist nichts anderes als der Staatsgrundsatz des âFortwurstelnsâ im
alten Kakanien.â (MoE 360 f.; vgl. GW 8, 1371 u. bes. 1374) Nimmt man diese
Einsicht Ulrichs vom âPrinzip des minimalen Aufwands an Energieâ216 als Be-
wegungsgesetz menschlicher Gesellschaften ernst, dann scheint der ordnende
Hegelâsche Weltgeist mehr oder weniger abgedankt und einem ordnungslosen
Durcheinander Platz gemacht zu haben, das gleichwohl eine gewisse Analogie
zum Entropiesatz der Naturwissenschaften aufweist :
Der Weg der Geschichte ist also nicht der eines Billardballs, der, einmal abgestoĂen,
eine bestimmte Bahn durchlÀuft, sondern er Àhnelt dem Weg der Wolken, Àhnelt
dem Weg eines durch die Gassen Streichenden, der hier von einem Schatten, dort
von einer Menschengruppe oder einer seltsamen Verschneidung von HĂ€userfronten
215 Vgl. Aristoteles : Poetik, S. 29 (1451b) ; mehr dazu am Anfang dieses Kapitels.
216 Bonacchi : Die Gestalt der Dichtung, S. 174.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208