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248 Teil I: Grundlegung
bereich, an dem Musil selbst sein essayistisches Reflexionsprogramm ansiedelt
â insofern handelt es sich tatsĂ€chlich um den âHauptplatzâ des im Roman
entfalteten geistigen Kosmos, âvon dem alles auslĂ€uftâ (MoE 582), wie sein Er-
zĂ€hler verrĂ€t. Ulrich ist sich dessen durchaus bewusst, wie seine âErinnerung
daranâ zeigt, dass sich die âunmögliche Verbindungâ zwischen Diotima und
ihm âzuletzt in dem gespannten VerhĂ€ltnis von Literatur und Wirklichkeit,
Gleichnis und Wahrheit dargestellt hatteâ (MoE 593). An diesen spannungs-
reichen Begriffspaaren macht er sodann eine weitreichende anthropologische
Hypothese fest :
[S]o weit die menschliche Geschichte zurĂŒckreicht, lassen sich diese beiden Grund-
verhaltensweisen des Gleichnisses und der Eindeutigkeit unterscheiden. Eindeutig-
keit ist das Gesetz des wachen Denkens und Handelns, das ebenso in einem zwin-
genden SchluĂ der Logik wie in dem Gehirn eines Erpressers waltet, der sein Opfer
Schritt um Schritt vor sich her drÀngt, und sie entspringt der Notdurft des Lebens, die
zum Untergang fĂŒhren wĂŒrde, wenn sich die VerhĂ€ltnisse nicht eindeutig gestalten
lieĂen. Das Gleichnis dagegen ist die Verbindung der Vorstellungen, die im Traum
herrscht, es ist die gleitende Logik der Seele, der die Verwandtschaft der Dinge in
den Ahnungen der Kunst und Religion entspricht ; aber auch was es an gewöhnlicher
Neigung und Abneigung, Ăbereinstimmung und Ablehnung, Bewunderung, Unter-
ordnung, FĂŒhrerschaft, Nachahmung und ihren Gegenerscheinungen im Leben gibt,
diese vielfÀltigen Beziehungen des Menschen zu sich und der Natur, die noch nicht
rein sachlich sind und es vielleicht auch nie sein werden, lassen sich nicht anders be-
greifen als in Gleichnissen. (MoE 593)
Wie unschwer zu erraten ist, bilden die von Musil ânormalerâ und âanderer
Zustandâ genannten menschlichen âSeinsweisenâ den Hintergrund dieser
Ăberlegung. Ulrichs Angebot gegenĂŒber Diotima wĂ€re demzufolge als nur
halbironisch gemeinte Einladung zu verstehen, mit ihm in den âanderen Zu-
standâ zu wechseln, um der im âNormalzustandâ waltenden brutalen Macht
des Faktischen und der bloĂ quantitativ motivierten VerknĂŒpfung der Dinge223
eine qualitativ motivierte Denkform und damit eine affektiv verheiĂungsvol-
lere Lebensweise entgegenzusetzen. Im Unterschied zu zahlreichen anderen
Romanfiguren weiĂ Ulrich freilich, dass ihm bei einem (ohnehin kaum denk-
baren) Verharren im âanderen Zustandâ â komplementĂ€r zum âNormalzustandâ
223 Vgl. ebd., S. 34 : âVerknĂŒpft das kausale wissenschaftliche Denken die Dinge nach dem Prinzip
der HĂ€ufigkeit, so verknĂŒpft sie das katathyme, magische Denken nach dem Prinzip der Affekt-
gemeinschaft.â
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208