Seite - 266 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 266 -
Text der Seite - 266 -
Teil II: Romantext als
KrÀftefeld266
tendieren in der Meteorologie Maxima nĂ€mlich zu Minima, wie Musil weiĂ14,
nicht umgekehrt. Wenn der Wasserdampf in der Luft seine höchste Spann-
kraft erreicht, kann die Luftfeuchtigkeit nicht gering sein, im Gegenteil.15 Und
subjektive Begriffe wie âNeigungâ oder âSchuldigkeitâ sind gĂ€nzlich ungeeig-
net, meteorologische PhÀnomene wissenschaftlich adÀquat zu beschreiben.16
Hinter der erzÀhlerischen Ironie lÀsst sich eine komplexe Struktur annehmen,
die folgendermaĂen skizziert sei : Der ErzĂ€hler bzw. Beobachter suggeriert
ein in einem bestimmten Raum sich abspielendes Geschehen, das so jedoch
dort gar nicht stattfinden kann, was gleich zu Beginn des Romans den darin
bereits mehrfach diagnostizierten Ausweis von dessen Konstrukthaftigkeit be-
deutet. Inhaltlich wird dies in die Paradoxie gefasst, dass Beschreibungen, die
meteorologisch nur fĂŒr zwei verschiedene Orte zutreffen können â geringe
Luftfeuchtigkeit und zugleich hohe Spannkraft der Wasserteilchen â, hier auf
einen einzigen Ort bezogen sind. Der erzÀhlte bzw. observierte Raum prÀ-
sentiert sich somit selber als genauso âortlosâ wie der prĂ€tendiert auktoriale
ErzÀhler- bzw. Beobachterstandpunkt, dessen verqueres Produkt er ist, dessen
Triftigkeit er aber durch seine eigene schiere Unmöglichkeit implizit unter-
grĂ€bt. Das hat ĂŒberraschende Auswirkungen auf die erzĂ€hlerische âInszenie-
rung und Beobachtung der eigenen Beobachterpositionâ.17 Im Unterschied zu Niklas
Luhmanns radikalkonstruktivistischem Konzept der âBeobachtung zweiter
Ordnungâ18, welche souverĂ€n Beobachtungen beobachtet, indem sie das beob-
achtete System durch den Akt der Unterscheidung von System und Umwelt
erst konstituiert19, zeigt Musils Roman, dass der sekundÀre Beobachter immer
schon Effekt â und nicht bloĂ Voraussetzung â jener Strukturen ist, die er be-
14 So bemerkt er im Essayfragment Der deutsche Mensch als Symptom (1923) zutreffend, dass âder
Wind von Osten nach Westenâ blĂ€st, wenn âim Osten ein Maximum, im Westen ein Minimum
des Luftdrucks sich findetâ (GW 8, 1374).
15 Vgl. David : Musil und die Stadt, S. 520, sowie die Andeutungen in Rasch : âDer Mann ohne
Eigenschaftenâ, S. 103 f.
16 Vgl. Arntzen : Musil-Kommentar, S. 83 f.; Honold : Die Stadt und der Krieg, S. 37.
17 So Martens : Beobachtungen der Moderne, S. 259, der sich dabei auf Luhmann stĂŒtzt.
18 Vgl. Luhmann : EinfĂŒhrung in die Systemtheorie, S. 155â166. âDamit ist gemeint, dass man ei-
nen Beobachter beobachtet. Unter den Anforderungen dieses Begriffs bedeutet das nicht, dass
man irgendwelchen Leuten zuschaut, sondern dass man sich anschaut, wie sie beobachten.â
(S. 155)
19 Vgl. ebd., S. 143, wonach der âoperative[ ] Ansatzâ der Systemtheorie in der Annahme âder
operativen Geschlossenheit der Autopoiesisâ besteht, der zufolge âeine Beobachtung durch das
System produziert wird, das durch sie produziert wirdâ, was Luhmann als einen âIndikator fĂŒr
die eigentĂŒmliche RadikalitĂ€t und UnabhĂ€ngigkeit [!] der Perspektiveâ feiert. Demnach stellt
sich als Voraussetzung einer âBeobachtung zweiter Ordnungâ allein die ideelle âFrage, mit wel-
chen Unterscheidungen ein Beobachter arbeitet, den ich beobachteâ (S. 156).
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208