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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld274
sie einfach, sobald sie das Haus verlieĂen, den GroĂstadtströmungen, die ein
Bild der BedĂŒrfnisse sind und mit gezeitenmĂ€Ăiger Genauigkeit die Massen,
je nach der Stunde, irgendwo zusammenpressen und anderswo abfangen. Sie
ĂŒberlieĂen sich dem ohne bestimmte Absicht.â (MoE 1204) Musils ââdurch-
strichenesâ Wienâ (MoE 1820, nach M VII/8/124) symbolisiert jene Nivellie-
rung des âEinzigartigenâ36, das eine Funktion moderner Technik und anony-
mer groĂstĂ€dtischer Massengesellschaft ist und thermodynamisch37 â nĂ€mlich
im Sinne der kinetischen Gastheorie38 â gefasst werden kann :
Wie alle groĂen StĂ€dte bestand sie aus UnregelmĂ€Ăigkeit, Wechsel, Vorgleiten, Nicht-
schritthalten, ZusammenstöĂen von Dingen und Angelegenheiten, bodenlosen
Punkten der Stille dazwischen, aus Bahnen und Ungebahntem, aus einem groĂen
rhythmischen Schlag und der ewigen Verstimmung und Verschiebung aller Rhyth-
men gegeneinander, und glich im ganzen einer kochenden Blase, die in einem GefĂ€Ă
ruht, das aus dem dauerhaften Stoff von HĂ€usern, Gesetzen, Verordnungen und ge-
schichtlichen Ăberlieferungen besteht. (MoE 10)
Weshalb Musil gerade die zwar groĂe, aber eben nicht ĂŒbermĂ€Ăig groĂe
Hauptstadt des vor dem Ersten Weltkrieg politisch, wirtschaftlich und tech-
nologisch vergleichsweise ârĂŒckstĂ€ndigenâ kontinentaleuropĂ€ischen FlĂ€chen-
staats Ăsterreich-Ungarn â und nicht âeine Art ĂŒberamerikanische Stadtâ
(MoE 31)39 â zum Ort des romanesken Geschehens wĂ€hlt, wurde mit dem
36 Vgl. David : Musil und die Stadt, S. 524. Honold : Die Stadt und der Krieg, S. 109, bestĂ€tigt : âEine
topographische Rekonstruktion des Wiener Stadtbilds um 1900 fĂ€nde [âŠ] im Mann ohne Eigen-
schaften als Quellentext nur spĂ€rliche Anhaltspunkte.â Dies ist umso bemerkenswerter, als Musils
Entwurfsskizzen zum Romanprojekt âfĂŒr einen keineswegs saloppen Umgang des Autors mit
der Anordnung topographischer Detailsâ sprechen (ebd., S. 111).
37 Vgl. Serres : Hermes V, S. 67â69 ; BrĂŒggemann : Die urbanen Visions-RĂ€ume einer Ăbermo-
derne, S. 553 f.
38 Vgl. dazu Kittler : Der Zustand des Romans im Zeitalter der Zustandsgleichung, S. 204 f.
39 In diesem Zusammenhang ist es bezeichnend, dass die mit Wien als deutschsprachiger Metro-
pole konkurrierende preuĂisch-deutsche Hauptstadt Berlin in der damaligen literarischen Topik
hĂ€ufig als âamerikanischeâ Stadt bezeichnet und diskutiert wurde, was die verwendete Bildlich-
keit indirekt auch als Anspielung auf die Konkurrenz der beiden ReichshauptstÀdte im Sinne un-
terschiedlicher AusprÀgungen der Moderne erscheinen lÀsst ; vgl. dazu die instruktiven Quellen
und Informationen in Sprengel/Streim : Berliner und Wiener Moderne, bes. S. 220â227 ; Essen :
Das âdurchstricheneâ Wien, S. 160. Becker : Von der âTrunksucht am TatsĂ€chlichenâ, S. 152 f.,
orientiert sich in ihrer Moderne-Konzeption ausschlieĂlich am Berliner Paradigma und vermisst
bei Musil deshalb die am filmischen Medium ausgerichtete âUrbanisierung Ă€sthetischen Schrei-
bensâ, die sie in Döblins Berlin Alexanderplatz idealtypisch verwirklicht sieht. Aus dem (disku-
tablen) Befund, dass âMusil sich [âŠ] im Fortschreiten der Handlung in die Wiener Welt der k.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208