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âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 277
unbewusste, inkorporierte, doch soziologisch umso relevantere sense of oneâs
place der einzelnen Romanfiguren zur Plausibilisierung unterschiedlichster er-
zÀhlerischer Konstellationen fruchtbar gemacht werden, wie noch zu zeigen
sein wird. Zugleich kann der ErzÀhler an seinem Beispiel aber auch die Rela-
tivitÀt unterschiedlicher Standpunkte veranschaulichen, indem er darauf hin-
weist, dass man âsolche RĂ€tselâ der IdentitĂ€t meist schnell âvergiĂt, falls man
sich nicht wĂ€hrend der nĂ€chsten fĂŒnfzig Schritte erinnern kann, wo man die
beiden schon gesehen hatâ (MoE 10). Auf diese Weise wird also einerseits die
von Musil theoretisch postulierte erzÀhlerische Auseinandersetzung mit der
zeitgenössischen sozialen Wirklichkeit vorbereitet, andererseits aber auch der
Einsicht in die ontologische ArbitraritÀt sozialer Indizes Rechnung getragen
und damit deren drohender Essenzialisierung entgegengewirkt.
Das Vertrauen der Leserinnen und Leser in eine der ânatĂŒrlichenâ Ordnung
der Dinge entsprechende RealitĂ€t der erzĂ€hlten Welt wird schlieĂlich durch
den abschlieĂend geschilderten Unfall grĂŒndlich erschĂŒttert, der sogar die Iso-
chronie von ErzĂ€hlung und Geschichte durcheinanderbringt : âSchon einen
Augenblick vorher war etwas aus der Reihe gesprungen, eine quer schlagende
Bewegung ; etwas hatte sich gedreht, war seitwÀrts gerutscht, ein schwerer,
jÀh gebremster Lastwagen war es, wie sich jetzt zeigte, wo er, mit einem Rad
auf der Bordschwelle, gestrandet dastand.â (MoE 10) Der aus der kontinuierli-
chen zeitlichen Abfolge âausgebrochene[ ] Augenblickâ (GW 7, 651) verweist
jedoch nicht allein auf einen âsemantischen Unfall[ ]â,47 sondern gerĂ€t im Me-
dium des Textes wiederum zu einem sozialen Ereignis :
Wie die Bienen um das Flugloch hatten sich im Nu Menschen um einen kleinen
Fleck angesetzt, den sie in ihrer Mitte freilieĂen. Von seinem Wagen herabgekom-
men, stand der Lenker darin, grau wie Packpapier, und erklÀrte mit groben GebÀrden
den UnglĂŒcksfall. Die Blicke der Hinzukommenden richteten sich auf ihn und sanken
dann vorsichtig in die Tiefe des Lochs, wo man einen Mann, der wie tot dalag[48], an
die Schwelle des Gehsteigs gebettet hatte. (MoE 10)
seine Stimme [âŠ] spricht, oder sie sogar als solche sichtbar machen kann, indem er sie aufruft,
sich in einer öffentlichen Kundgebung â einem Umzug, einer Prozession, einem Aufmarsch oder
in modernen Zeiten einer Demonstration â zu zeigen und damit in aller Augen ihre Existenz,
ihre (mit der Zahl verbundene) Kraft, ihren Willen kundzutun.â
47 So MĂŒlder-Bach : Poetik des Unfalls, S. 216. Von einem âUnfall [âŠ] der Kommunikationâ spricht
in diesem Sinn bereits Precht : Die gleitende Logik der Seele, S. 40.
48 Eisele : Ulrichs Mutter ist doch ein TintenfaĂ, S. 164, sieht im âVerkehrsopfer die abstrakte Form
des Protagonisten dar[ge]stellt, die sich dann in und zu Ulrich konkretisiert.â Mehr zu dieser
forcierten Deutung unten.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208