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âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 279
können. Ebenso wie die anschlieĂende Rede des anonymen Herrn vom âzu
langen Bremswegâ auf avancierte Technik verweist, geht aus dem reibungslo-
sen Ablauf der Bergung des Unfallopfers eine fortgeschrittene Versachlichung
menschlicher ZusammenhÀnge hervor :
Man hörte jetzt auch schon die Pfeife eines Rettungswagens schrillen, und die
Schnelligkeit seines Eintreffens erfĂŒllte alle Wartenden mit Genugtuung. Bewun-
dernswert sind diese sozialen Einrichtungen. Man hob den VerunglĂŒckten auf eine
Tragbahre und schob ihn mit dieser in den Wagen. MĂ€nner in einer Art Uniform
waren um ihn bemĂŒht, und das Innere des Fuhrwerks, das der Blick erhaschte, sah so
sauber und regelmĂ€Ăig wie ein Krankensaal aus. (MoE 11)
Die Wirkung des beschriebenen Vorgangs auf die anonyme Dame des Ein-
gangskapitels entspricht jener der Rede vom âBremswegâ : âSie hatte dieses
Wort wohl schon manchmal gehört, aber sie wuĂte nicht, was ein Bremsweg
sei, und wollte es auch nicht wissen ; es genĂŒgte ihr, daĂ damit dieser grĂ€Ă-
liche Vorfall in irgend eine Ordnung zu bringen war und zu einem techni-
schen Problem wurde, das sie nicht mehr unmittelbar anging.â (MoE 11) Es
sind nicht allein die Vorgaben der Sprache, sondern auch die institutionellen
Vorkehrungen der (modernen) Massengesellschaft, die KommensurabilitÀt in
einer inkommensurabel gewordenen Welt suggerieren : âMan ging fast mit
dem berechtigten Eindruck davon, daĂ sich ein gesetzliches und ordnungs-
mĂ€Ăiges Ereignis vollzogen habe.â (MoE 11) Bemerkenswert an diesem Satz
ist die EinschrĂ€nkung âfastâ, denn sie deutet an, dass der genannte Eindruck
tatsĂ€chlich eben nicht âberechtigtâ ist bzw. dass Gesetzlichkeit und Ordnung
in der modernen Welt zumindest ein fragliches und zerbrechliches Gut dar-
stellen, das von Seiten des Staates kaum vollstÀndig zu gewÀhrleisten ist. So
wird hier wohl weniger Ordnung als solche in Frage gestellt als vielmehr der
simple Glauben, dass Ordnung und Kontingenz sich gegenseitig ausschlieĂen.
Dieses hÀufig religiös geprÀgte, naiv obrigkeitsglÀubige Ordnungsdenken, das
einem Topos literarischer Wien-Darstellung â etwa Leopold von Andrians50 â
50 Vgl. den Ordo-Gedanken in der harmonisierend-integrativen urbanen Gesellschaftszeichnung
von Andrian : Der Garten der Erkenntnis, S. 30â32 : â[W]as immer zu Wien gehörte, fand er
jetzt als bedeutsam ; die Wesen und Dinge hatten jedes einen Sinn fĂŒr sich [âŠ]. Alles hatte seine
sinnreiche Schönheit : die Kathedralen des Mittelalters und die groĂen gelben Barockkirchen,
[âŠ] die kleinen mittelalterlichen Kirchen im Gewirr der HĂ€user und die armen Kirchen der
zwanziger Jahre in der Vorstadt. Alle [âŠ] HĂ€user waren schön : die schwarzen PalĂ€ste mit ihren
Dianen und Apollen, die einstöckigen farbigen HÀuser der Vorstadt, in denen man des Abends
leben sah, und die kleinen SchĂ€nken auf dem Land [âŠ] und die HĂ€user mit den riesigen Höfen
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208