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âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 283
Mit anderen Worten :
Der Akteur (der weder ein Subjekt oder BewuĂtsein ist noch ein bloĂer TrĂ€ger einer
Rolle oder eine bloĂe Aktualisierung einer Struktur oder Funktion) und die soziale
Welt (die niemals einfach eine Sache ist [âŠ]) sind, darauf haben schon Heidegger
und Merleau-Ponty hingewiesen, in einem regelrechten ontologischen EinverstÀnd-
nis vereint. [âŠ] Da der Habitus das inkorporierte Soziale ist, ist er auch in dem Feld
âzu Hauseâ, in dem er sich bewegt und das er unmittelbar als sinn- und interessenhal-
tig wahrnimmt.60
Diese gleichsam âontologischeâ Ăbereinstimmung zwischen Akteur und so-
zialer Welt kann Musil nun darstellerisch funktionalisieren, indem er seinen
âeigenschaftslosenâ Romanhelden in einen erzĂ€hlerisch gestalteten Raum ver-
setzt, der fĂŒr dessen âEigenschaftslosigkeitâ ein passendes Komplement bildet.
Als solcher Raum bietet sich der (nach dem historischen Modell Ăsterreich-
Ungarns gestaltete) untergegangene Staat âKakanienâ an, der âalle Eigenschaf-
ten der anderen LĂ€nder besitzt, sie nur nicht so konsequent, so intensiv, so
schnell, so grĂŒndlich wie diese in die Wirklichkeit umsetztâ ; Kakanien befindet
sich also als Ganzes in einer strukturellen Homologie zur mÀnnlichen Haupt-
figur des Romans, in der âpotentiell alle Eigenschaften seiner Zeit angelegt
sindâ, die sich in den anderen Romanfiguren â ihrerseits âgleichsam partielle
Realisierungen von Ulrichs Eigenschaftenâ â konkretisieren.61 Das Tertium
Comparationis der Ăquivalenz zwischen Romankosmos und Romanfigur be-
60 Ebd., S. 161 f. Vgl. dazu Merleau-Ponty : Die Struktur des Verhaltens, S. 193 f.: âDer FuĂballplatz
ist fĂŒr den Spieler in Aktion kein âObjektâ [âŠ]. Der Spielplatz ist ihm nicht gegeben, sondern er
ist gegenwÀrtig als der immanente Zielpunkt seiner praktischen Intentionen ; der Spieler bezieht
ihn in seinen Körper mit ein und spĂŒrt beispielsweise die Richtung des âToresâ ebenso unmit-
telbar wie die Vertikale und Horizontale seines eigenen Leibes. Es genĂŒgt nicht, wenn man
sagt, das BewuĂtsein bewohne diese Umwelt. Es gibt in diesem Moment nichts anderes als die
Dialektik von Umwelt und Handlung. Jedes Manöver, das der Spieler vollfĂŒhrt, verĂ€ndert den
Aspekt des Spielfeldes und zeichnet darin neue Kraftlinien ein, wo dann ihrerseits die Handlung
verlĂ€uft und sich realisiert, indem sie das phĂ€nomenale Feld erneut verĂ€ndert.â Etwas verklausu-
lierter in Heidegger : Sein und Zeit, S. 86, § 18 : âWorin Dasein [âŠ] sich je schon versteht, damit
ist es ursprĂŒnglich vertraut. Diese Vertrautheit mit Welt verlangt nicht notwendig eine theore-
tische Durchsichtigkeit der die Welt als Welt konstituierenden BezĂŒge. Wohl aber grĂŒndet die
Möglichkeit einer ausdrĂŒcklichen ontologisch-existenzialen Interpretation dieser BezĂŒge in der
fĂŒr das Dasein konstitutiven Weltvertrautheit, die ihrerseits das SeinsverstĂ€ndnis des Daseins
mit ausmacht.â Musil dĂŒrfte der Gedanke der gleichsam âontologischenâ Ăbereinstimmung, die
es erlaubt, die leidige Alternative zwischen Subjektivismus und Objektivismus zu ĂŒberwinden,
allerdings nicht daher, sondern aus der Gestalttheorie vertraut gewesen sein.
61 Goltschnigg : Die Bedeutung der Formel âMann ohne Eigenschaftenâ, S. 331 f.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208