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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld286
Urreligion ? ein Epos ? Weder die katholische noch die evangelische Religion sei hier
entstanden ; die Buchdruckerkunst und die Ăberlieferungen der Malerei seien aus
Deutschland gekommen ; das Herrscherhaus habe die Schweiz, Spanien, Luxemburg
geliefert ; die Technik England und Deutschland ; die schönsten StÀdte, Wien, Prag,
Salzburg seien von Italienern und Deutschen erbaut, das MilitÀrwesen nach dem Mu-
ster Napoleons eingerichtet worden : Ein solcher Staat solle nichts Eigenes unterneh-
men wollen ; fĂŒr ihn gebe es ĂŒberhaupt nur eine Rettung und das sei der AnschluĂ an
Deutschland. (MoE 551)
Einmal abgesehen von der konkreten politischen StoĂrichtung dieser staats-
feindlichen Suada, die den historisch durchaus existenten, aber wesentlich
Ă€sthetisch begrĂŒndeten österreichischen Mythos um 190065 geflissentlich
ĂŒbersieht (und insofern eher an Musils eigene, obrigkeitlich geförderte66
Nachkriegspropaganda von 1919 fĂŒr einen Anschluss âRestösterreichsâ an
Deutschland erinnert67 als an die antihabsburgische Ideologie der Vorkriegs-
zeit), ist der identifikatorische Bezugspunkt hier derselbe wie in Stumm von
Bordwehrs gegenlÀufigem patriotischen Ansinnen ; er liegt jenseits der eige-
nen Staatsgrenzen, im auf dem Konzept nationaler Einheit gegrĂŒndeten Deut-
schen Reich, an dem sich die Kakanier unentwegt messen und dem sie mit
einer charakteristischen Hassliebe verbunden sind : â[E]s erschien gerade den
geistig vornehmsten Kakaniern, die sich als die Erben und TrĂ€ger der berĂŒhm-
ten, von Beethoven bis zur Operette fĂŒhrenden kakanischen Kultur fĂŒhlten, als
ganz natĂŒrlich, daĂ man mit den Reichsdeutschen verbĂŒndet und verbrĂŒdert
war und sie nicht ausstehen konnte.â (MoE 514) Diese emotionale Ambiva-
lenz Ă€uĂert sich auch im politischen Denken : âMan gönnte ihnen eine kleine
Zurechtweisung und war, wenn man an ihre Erfolge dachte, immer ein wenig
bekĂŒmmert ĂŒber die heimatlichen ZustĂ€nde.â (MoE 514)
Musils ironischer ErzÀhler macht sich mit den stets in irgendeiner Weise
affektiv aufgeladenen, die eigene Eifersucht nur mĂŒhsam ĂŒbertĂŒnchenden Bli-
cken der Kakanier auf die nördlichen Nachbarn indes keineswegs gemein ; er
stellt die ihm zufolge nur vorderhand zurĂŒckgeblieben scheinende, spezifisch
kakanische WidersprĂŒchlichkeit und Inkonsequenz im Gegenteil gerade als
65 Vgl. Pollack : Wien 1900, S. 148â151.
66 Vgl. Corino : Musil [2003], S. 598â604, unter Verweis auf die (allerdings in taktischer Absicht ver-
fasste) ErklĂ€rung Musils im Brief an den Ministerialrat Karl Schönauer vom 18. Mai 1938 ĂŒber
die ihm 1919 anvertraute âAufgabeâ, âdurch essayistische TĂ€tigkeit fĂŒr den AnschluĂ Ăsterreichs
an Deutschland zu wirkenâ (Br 1, 819).
67 Vgl. Musils 1919 veröffentlichte AufsĂ€tze Buridans Ăsterreicher und Der AnschluĂ an Deutschland
(GW 8, 1030â1032 u. 1033â1042).
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208