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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld288
ren alle BĂŒrger gleich, aber nicht alle waren eben BĂŒrger. Man hatte ein Parlament,
welches so gewaltigen Gebrauch von seiner Freiheit machte, daà man es gewöhnlich
geschlossen hielt ; aber man hatte auch einen Notstandsparagraphen, mit dessen Hilfe
man ohne das Parlament auskam, und jedesmal, wenn alles sich schon ĂŒber den Ab-
solutismus freute, ordnete die Krone an, daĂ nun doch wieder parlamentarisch regiert
werden mĂŒsse. (MoE 33 f.)
Wie an spÀterer Stelle des Romans deutlich wird, entspricht solcher staatlich
institutionalisierten Inkonsequenz auch ein merkwĂŒrdig gebrochenes Selbst-
verstĂ€ndnis ; so heiĂt es im 42. Kapitel des Ersten Buchs :
Dieses österreichisch-ungarische StaatsgefĂŒhl war ein so sonderbar gebautes Wesen,
daĂ es fast vergeblich erscheinen muĂ, es einem zu erklĂ€ren, der es nicht selbst erlebt
hat. Es bestand nicht etwa aus einem österreichischen und einem ungarischen Teil, die
sich, wie man dann glauben könnte, ergÀnzten, sondern es bestand aus einem Ganzen
und einem Teil, nÀmlich aus einem ungarischen und einem österreichisch-ungarischen
StaatsgefĂŒhl, und dieses zweite war in Ăsterreich zu Hause, wodurch das österrei-
chische StaatsgefĂŒhl eigentlich vaterlandslos war. Der Ăsterreicher kam nur in Ungarn
vor, und dort als Abneigung ; daheim nannte er sich einen Staatsangehörigen der im
Reichsrate vertretenen Königreiche und LÀnder der österreichisch-ungarischen Mo-
narchie, was das gleiche bedeutet wie einen Ăsterreicher mehr einem Ungarn weniger
diesen Ungarn, und er tat das nicht etwa mit Begeisterung, sondern einer Idee zuliebe,
die ihm zuwider war, denn er konnte die Ungarn ebensowenig leiden wie die Ungarn
ihn, wodurch der Zusammenhang noch verwickelter wurde. Viele nannten sich des-
halb einfach einen Tschechen, Polen, Slowenen oder Deutschen, und damit begannen
jener weitere Zerfall und jene bekannten âunliebsamen Erscheinungen innerpolitischer
Naturâ, wie sie Graf Leinsdorf nannte, die nach ihm âdas Werk unverantwortlicher,
unreifer, sensationslĂŒsterner Elementeâ waren, die in der politisch zu wenig geschulten
Masse der Bewohner nicht die nötige ZurĂŒckweisung fanden. (MoE 170)
Die vertrackte Problematik des österreichisch-ungarischen StaatsgefĂŒhls er-
scheint hier in einer essayistischen Passage auseinandergelegt, die direkt von
der (wiederum auktorialen) ErzÀhlstimme verantwortet wird. Vor allem die
ironisch anmutende, aber historisch durchaus zutreffende Beschreibung der
staatsrechtlichen Bezugslosigkeit des âcisleithanischenâ Patriotismus (also des
StaatsgefĂŒhls der nichtungarischen ReichshĂ€lfte) macht durch ihre âphantasti-
sche Genauigkeitâ (MoE 247) die AbsurditĂ€t jener schiefen Verfassungskonst-
ruktion sichtbar, die seit dem österreichisch-ungarischen Ausgleich der Habs-
burgermonarchie zugrunde lag : Diese war ja in eine königliche ungarische
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208