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333âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Dass sich die skizzierte analytische Vorgehensweise durchaus in den Bah-
nen der Poetik und Anthropologie Musils bewegt, ihnen jedenfalls nicht wi-
derspricht, mag ein kursorischer Hinweis veranschaulichen : Wenngleich er
Bourdieus Habituskonzept nicht kennen konnte, hat Musil sich doch selbst an
der Entwicklung einer Vorstellung versucht, die in der Lage wÀre, jeweils in
sich kohÀrente, relativ einheitliche Wahrnehmungsweisen verschiedener Fi-
guren zu unterschiedlichen Zeiten zu motivieren. Entsprechendes zeigt etwa
der 1933/34 entstandene Kapitelentwurf âDie drei Schwesternâ, in dem der
ErzĂ€hler darĂŒber reflektiert, dass zur erzĂ€hlten Zeit des Mann ohne Eigenschaf-
ten âeine Frau mit einer Brille noch als komischâ gegolten habe und âwirklich
zum Lachen oder auch bedauerlich aus[sah]â, wĂ€hrend sie damit schon wenig
spĂ€ter sowie noch zur ErzĂ€hlzeit des Romans âunternehmungslustig, ja gera-
dezu jungâ wirke ; er erlĂ€utert dieses scheinbare Paradox folgendermaĂen :
Dem liegen die fest erworbenen Gewohnheiten des BewuĂtseins zugrunde, die
wechseln, aber in irgendeiner Verbindung immer da sind und die Schablone bilden,
durch die alle Wahrnehmungen hindurchgehn, ehe sie zu BewuĂtsein kommen, so
daĂ in gewissem Sinne immer das Ganze, das man zu erleben glaubt, die Ursache von
dem ist, was man erlebt. Und selten macht man sich eine Vorstellung davon, wie weit
das reicht und daĂ es von schön und hĂ€Ălich, von gut und böse, wo es noch natĂŒrlich
zu sein scheint, daĂ des einen Morgenwolke des anderen Kameel sei, ĂŒber bitter
und sĂŒĂ oder duftig und ĂŒbelriechend, die schon etwas Sachliches haben, bis zu den
Sachen selbst reicht mit ihren genau und unpersönlich zugewiesenen Eigenschaften,
deren Wahrnehmung scheinbar ganz unabhÀngig von geistigen Vorurteilen ist, und
es in Wahrheit nur zum groĂen Teil ist. In Wahrheit ist das VerhĂ€ltnis der AuĂen- zur
Innenwelt nicht das eines Stempels, der in einem empfangenden Stoff sein Bild prÀgt,
sondern das eines PrÀgstocks, der sich dabei deformiert, so daà sich seine Zeichnung,
ohne daĂ ihr Zusammenhang zerrisse, zu merkwĂŒrdig verschiedenen Bildern verĂ€n-
dern kann. (MoE 1435, nach M VII/9/6 f.)
Mit den zuletzt zitierten Worten versucht Musil Àhnlich wie Bourdieu, den
Habitus nicht nur als feststehendes âKlassifikationssystem (principium divisio-
nis)â, sondern zudem als durch UmwelteinflĂŒsse selbst verĂ€nderliches perzep-
tives âErzeugungsprinzipâ zu konzeptualisieren.25 Nimmt man seine Ăberle-
einfĂŒhren und gerade das will Musil nicht. Um dies deutlich zu machen, gibt Musil Ulrich nicht
das Privileg das Richtige zu sagen, auch Graf Leinsdorf, Diotima und sogar Arnheim dĂŒrfen ab
und zu etwas Richtiges sagen.â Mehr dazu ebd., S. 66 f.
25 Vgl. Bourdieu : Die feinen Unterschiede, S. 277.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208