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348 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
text doch ausdrĂŒcklich heiĂt, Ulrich habe âsich von auĂen, durch die Lebens-
umstĂ€nde bildenâ lassen (MoE 21). Der Grund dafĂŒr liegt wohl hauptsĂ€chlich
in einem verkĂŒrzenden VerstĂ€ndnis der romankonstitutiven Kategorie âEi-
genschaftslosigkeitâ, das Rollenverweigerung nicht als Ausdruck eines erwor-
benen Habitus zu beschreiben vermag, sondern nur als dessen prinzipielle
Negation. So wurde fast litaneihaft behauptet, es komme auf âdie bĂŒrgerliche
IdentitĂ€t und soziale Einordnungâ des zentralen Protagonisten âgerade nicht
anâ.77 Besonders beliebt ist die Leugnung jeglicher sozialen Implikation der
paradoxen Charakterologie des âMannes ohne Eigenschaftenâ seit der Kon-
junktur einer totalisierten Rhetorik und damit einhergehender antisoziologi-
scher Ressentiments in gewissen Arbeiten der âpostmodernenâ Literaturwis-
senschaft. Ein wirkungsmĂ€chtiges Beispiel dafĂŒr ist die in der Einleitung zu
vorliegender Arbeit bereits zitierte These Hartmut Böhmes : âUlrich streicht
sich zu Beginn als historisch und sozial bestimmtes Subjekt durch, um in die
dezentrale Position eines Denkens zu rĂŒcken, welches die Zeichen der Kata-
strophe zu dechiffrieren vermag.â78 TatsĂ€chlich findet sich im Romankosmos
die Position des unentwegt reflektierenden Ulrich jenseits der stereotypen
sozialen Rollenschemata angesiedelt, an einem sozial gleichsam âexterritoria-
lenâ Ort (vgl. Tb 1, 905). In diesem Zusammenhang wurde mit einigem Recht
Karl Mannheims Konzept der âfreischwebenden Intelligenzâ bemĂŒht79, deren
dennoch bestehende prinzipielle âSeinsgebundenheitâ aber meist vernachlĂ€s-
sigt.80 Folgt man Mannheim und mehr noch Musils eigenem âTheorem der
menschlichen Gestaltlosigkeitâ, das die genannten Deutungen der (negativ -)
anthropologischen Konzeption des Mann ohne Eigenschaften erklĂ€rtermaĂen
zugrunde legen, dann bedarf es freilich ganz spezifischer sozialer Vorausset-
zungen, um Ulrichs kontemplative Haltung und angeblich auch soziale âOrt-
losigkeitâ, seine reflexive Abstraktion von den gesellschaftlichen ZwĂ€ngen,
ĂŒberhaupt erst zu ermöglichen. Schon die frĂŒhe psychoanalytische Rezep-
77 Neymeyr : Psychologie als Kulturdiagnose, S. 33. Vgl. auch Feger : Die Moral des nÀchsten
Schritts, S. 184, der davor warnt, âdiesen âUlrichâ [âŠ] mit der Vorstellung eines empirisch, psy-
chologisch oder sozial bestimmten Individuums [zu] verwechseln. Er ist nur ein Name, ein Zei-
chen fĂŒr eine individuelle Erscheinung von SubjektivitĂ€t, mit deren Hilfe die Darstellung eines
Bewusstseins, besser eines Bewusstseinsstroms [?], möglich wird, dem jeder ausgeliefert ist.â
78 Böhme : Eine Zeit ohne Eigenschaften, S. 311.
79 Vgl. Mannheim : Ideologie und Utopie, S. 135 u. 138 ; dazu MĂŒller : Ideologiekritik und Meta-
sprache, S. 9 f. u. 102â104 ; Blasberg : Krise und Utopie der Intellektuellen, S. 46â48 u. 155.
80 Zur âSeinsgebundenheitâ und damit nur ârelativ freischwebendenâ, âgleitenden Denkbasisâ des
modernen Intellektuellen bei Mannheim vgl. NĂŒbel : Relationismus und Perspektivismus, bes.
S. 148, 153 u. 159.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208