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349âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
tion des Romans hat dementsprechend darauf gepocht, âdaĂ selbst ein Mann
ohne Eigenschaften einen Anfang haben muĂ, aus welchem sich sein So-Sein
verstehtâ81.
Musil selbst hat sich solchen (scheinbaren) EinwĂ€nden gegenĂŒber nicht
verschlossen, im Gegenteil. In Ăbereinstimmung mit seinen theoretischen
PrÀmissen hat er die sozialen und psychologischen Bedingungen der Mög-
lichkeit von Ulrichs essayistisch-kontemplativer Haltung an verschiedenen
Orten des Romans ausdrĂŒcklich thematisiert und diskutiert â was von der bis-
herigen Forschung meist ĂŒbersehen wurde.82 Er weiĂ : âUlrich ist verwöhnt,
reich, unzeitgemĂ€Ăâ, indes : âAuch Wilhelm Meister ist wohlhabend gewesenâ
(MoE 1940). Es handelt sich um eine ganz bewusste soziale Ausgestaltung des
Protagonisten, mit der sich Musil vom seinerzeit gĂ€ngigen kleinbĂŒrgerlichen
oder gar proletarischen Romanhelden absetzt.83 Ăber die familiĂ€ren Voraus-
setzungen der mĂ€nnlichen Hauptfigur wird von Beginn an ausfĂŒhrlich berich-
tet. So erfĂ€hrt man ĂŒber Ulrich im dritten Kapitel : âEr war zweiunddreiĂig
Jahre alt, und sein Vater neunundsechzig.â (MoE 14) Im Vergleich zu Helden
aus anderen Romanen hat Musils Hauptfigur zur erzÀhlten Zeit also bereits
ein mittleres Alter erreicht â eine entscheidende Differenz zur Tradition der
stĂ€rker âbildbarenâ Helden des deutschen Entwicklungsromans von Wielands
Geschichte des Agathon bis zu Thomas Manns Zauberberg. Ulrichs Habitus ist
zum Zeitpunkt des Romaneinsatzes bereits so gefestigt, dass es im weiteren
Verlauf der Handlung nicht mehr primÀr um dessen sukzessive Herausbildung
gehen wird. DarĂŒber hinaus trennt ihn vom eigenen Vater ein Altersunter-
schied von 37 Jahren, was aufgrund der unterschiedlichen Lebenserfahrung
auf eine relativ groĂe habituelle Distanz schlieĂen lĂ€sst.84 Dieser auch emoti-
onal wirksame85 Abstand zwischen zwei weit auseinanderliegenden Genera-
tionen derselben Familie, die aufgrund des frĂŒhen Verlustes der Mutter nicht
ĂŒberbrĂŒckt oder abgemildert werden kann86, erscheint in den einfĂŒhrenden
81 Briefliche Mitteilung von Rene A. Spitz an Karl Corino ; zit. in Corino : Musil [1988], S. 385 ; vgl.
Corino : Musil [2003], S. 1082.
82 Eine Ausnahme bildet hier Kuzmics/MozetiÄ : Musils Beitrag zur Soziologie, S. 235â244.
83 Vgl. dazu Kap. III.1.2.
84 Die Beziehung zwischen Ulrich und seinem Vater wurde in der Forschungsliteratur bisher nicht
allzu intensiv beleuchtet. Eine wichtige Ausnahme bildet Böhme : Anomie und Entfremdung,
S. 176â193 u. 202â208. Heyd : Musil-LektĂŒre, S. 216â224, deutet das VerhĂ€ltnis psychoanaly-
tisch. Zum Generationenkonflikt vgl. auch Strutz : Politik und Literatur, S. 83â87 u. 128 f.
85 Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass Ulrich spĂ€ter vom âAbleben des Erzeugersâ
(MoE 655) â so die merklich distanzierte ErzĂ€hlerrede ĂŒber den Tod seines Vaters â ânicht sehr
erschĂŒttertâ wird (MoE 677).
86 Vgl. dazu die kursorische Andeutung in der frĂŒhen âStudie zum SchluĂâ (MoE 1828). Die viel
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208