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351âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
stattung durch fortgesetzte Investitionen freilich gepflegt werden muss : Wie
der soziologisch versierte ErzÀhler im Blick auf die Arbeit am sozialen Kapital
selbst erlĂ€utert, schliefen die âin der Jugend erworbenen und im Mannesalter
befestigten Beziehungen nicht einâ (MoE 14).
Als renommierter und wohlhabender Professor der Jurisprudenz, der sogar
âbeinahe Justizminister gewordenâ wĂ€re (MoE 693), ist Ulrichs Vater auf die
AusĂŒbung der aufreibenden GerichtstĂ€tigkeit finanziell nicht mehr angewie-
sen und kann sich die gelegentliche GutachtertĂ€tigkeit allein nach MaĂgabe
des damit zu erwerbenden Prestiges auswÀhlen. Angesichts seiner sorgsamen
Pflege des sozialen wie gleichermaĂen des kulturellen Kapitals ist es mehr
als konsequent, dass er ânicht nur Professor, Mitglied von Akademien und
vielen wissenschaftlichen und staatlichen AusschĂŒssen [wurde], sondern auch
Ritter, Komtur, ja sogar GroĂkreuz hoher Ordenâ (MoE 15) â mit anderen
Worten, dass er neben seinen wissenschaftlichen Auszeichnungen auch alle
zivilen Ordensstufen90 Kakaniens durchlief und damit sÀmtliche Gratifikati-
onen des Feldes der Macht in seiner Person vereint. Die groĂe Anerkennung
im universitÀren und im administrativen Feld verschafft ihm zuletzt sogar die
höchste Ehre91, die einem Sprössling des kakanischen BĂŒrgertums zuteil wer-
den kann : âSe. MajestĂ€t erhob ihn schlieĂlich in den erblichen Adelsstand
und hatte ihn schon vorher zum Mitglied des Herrenhauses ernannt.â (MoE
15) Das ist nicht nur in symbolischer Hinsicht von Bedeutung, wenn man
bedenkt, âdaĂ ein Titel auch ökonomischen Wert hat, daĂ er ein Kapital an
sozialen Beziehungen zum Ausdruck bringt, welche nur die Söhne der Aristo-
kratie innehabenâ92.
Der solcherart als kontinuierlich aufsteigende Linie skizzierte Lebenslauf
des Vaters bietet dem Sohn die denkbar beste Basis fĂŒr den eigenen Erfolg im
sozialen âSpielâ des Lebens. Aufgrund seines Erbes verfĂŒgt Ulrich nĂ€mlich in
erheblichem AusmaĂ ĂŒber alle drei Kapitalsorten : Geld, Bildung und Bezie-
hungen. Die soziale Experimentalanordnung des Romans besteht an diesem
Punkt in der Frage, wie er mit diesen optimalen Bedingungen umgeht bzw.
was er aus ihnen macht : âDie Ăbertragung der Macht von einer auf die an-
dere Generation stellt in der Geschichte der unmittelbaren Familieneinheit
immer einen kritischen Moment dar.â93 Hier ist nun zu konstatieren, dass Ul-
90 Vgl. Arntzen : Musil-Kommentar, S. 141.
91 Vgl. Pollak : Wien 1900, S. 70 f.
92 Ebd., S. 74.
93 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 32 ; vgl. auch Bourdieu : Ăkonomisches Kapital â Kulturelles
Kapital â Soziales Kapital, S. 74.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208