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374 Teil II: Romantext als KrÀftefeld
Wie die anderen Romanfiguren auf ihre Weise, verspĂŒrt auch Ulrich eine
geheime Sehnsucht nach Ăbereinstimmung und Geborgenheit (vgl. MoE
218)151, die er mit seiner wissenschaftlichen TĂ€tigkeit nicht befriedigen kann ;
er entdeckt schon frĂŒh,
daĂ er auch in der Wissenschaft einem Manne glich, der eine Bergkette nach der
anderen ĂŒberstiegen hat, ohne ein Ziel zu sehen. Er besaĂ BruchstĂŒcke einer neuen
Art zu denken wie zu fĂŒhlen, aber der anfĂ€nglich so starke Anblick des Neuen hatte
sich in immer zahlreicher werdende Einzelheiten verloren, und wenn er geglaubt
hatte, von der Lebensquelle zu trinken, so hatte er jetzt fast alle seine Erwartung
ausgetrunken. Da hörte er mitten in einer groĂen und aussichtsreichen Arbeit auf.
Seine Fachgenossen kamen ihm zum Teil wie unerbittlich verfolgungssĂŒchtige Staats-
anwÀlte und Sicherheitschefs der Logik vor, zum Teil wie Opiatiker und Esser einer
seltsam bleichen Droge, die ihnen die Welt mit der Vision von Zahlen und dinglosen
VerhĂ€ltnissen bevölkerte. âBei allen Heiligen !â dachte er âich habe doch nie die Ab-
sicht gehabt, mein ganzes Leben lang Mathematiker zu sein ?â (MoE 47)
Das Ziel von Ulrichs unerhörten BemĂŒhungen um einen Erkenntnisfortschritt
ist kein innerwissenschaftliches, sondern weist weit ĂŒber die eng gesteckten
Disziplinengrenzen hinaus : âWann immer man ihn bei der Abfassung mathe-
matischer und mathematisch-logischer Abhandlungen oder bei der BeschÀf-
tigung mit den Naturwissenschaften gefragt haben wĂŒrde, welches Ziel ihm
vorschwebe, so wĂŒrde er geantwortet haben, daĂ nur eine Frage das Den-
ken wirklich lohne, und das sei die des rechten Lebens.â (MoE 255) Ulrich
verfolgt seine BemĂŒhungen in den exakten Wissenschaften zwar mit einem
wahrhaft existenziellen Ernst.
Aber wenn man eine Forderung lange Zeit erhebt, ohne daĂ mit ihr etwas geschieht,
schlÀft das Gehirn genau so ein, wie der Arm einschlÀft, wenn er lange Zeit etwas
hochhÀlt, und unsere Gedanken können ebensowenig dauernd stehen bleiben wie
Soldaten im Sommer auf einer Parade ; wenn sie zu lange warten mĂŒssen, fallen sie
einfach ohnmÀchtig um. Da Ulrich ungefÀhr in seinem sechsundzwanzigsten Jahr
den Entwurf seiner Lebensauffassung abgeschlossen hatte, kam sie ihm in seinem
151 Vgl. die diesbezĂŒglichen Hinweise in Hartzell : Preparing for Agathe, bes. S. 200 u. 205. Nicht
mitvollzogen wird hier indes Hartzells Deutung des gesamten Ersten Buchs âexclusively as
background and preparation for what transpires between Ulrich and Agathe in the second
half of the novelâ. Auch die Gesellschaftsanalyse von âSeinesgleichen geschiehtâ hat durchaus
Ă€sthetischen Eigenwert, wie die vorliegende Arbeit zu demonstrieren versucht.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208