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377âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
den Wunsch hinaus, mit der Hilfe gegenseitiger Liebe in einer so gehobenen
weltlichen Verfassung zu leben, daĂ man nur noch das fĂŒhlen und tun kann,
was diesen Zustand erhöht und erhĂ€lt.â (MoE 874) Ulrich möchte keine âMa-
schineâ mehr sein, âdie unaufhörlich Leben entwertetâ (MoE 891). Er bleibt
zumindest im Blick auf die Liebe zu Agathe seiner einmal angenommenen
neuen Ernsthaftigkeit treu â und das, obgleich ihn, âder in letzter Zeit unter
seinem eigenen Ernst sehr gelitten hatteâ, etwa Bonadeas neuer âMangel an
moralischer Schwereâ âwohltuend erfrischtâ, ja denken lĂ€sst, âdaĂ eigentlich
bloĂ ernste Menschen böse sein könnenâ (MoE 890). Im gesellschaftlichen
Umgang wird Ulrich daraufhin dennoch nicht konzilianter â im Gegenteil,
wie sein abfĂ€lliges Urteil ĂŒber Lindner bezeugt : âEin fader Esel ! Will man auf
einer gewissen Höhe des Lebenszustands sein, so kann man einen solchen
Menschen ebensowenig ernst nehmen wie Professor Hagauer !â (MoE 1026)
Wie deutlich geworden sein sollte, besteht die Kehrseite von Ulrichs for-
ciertem âDonjuanismusâ in wissenschaftlicher und erotischer Hinsicht in
durchaus komplementĂ€ren BedĂŒrfnissen und daraus resultierenden âEnt wĂŒr-
fe[n] zu einer anderen Liebesauffassung, namentlich in den Geschichten mit
der Gattin eines Majors und mit Agatheâ153. Sie werden das Zweite Buch des
Mann ohne Eigenschaften entscheidend prÀgen. Dieser zweifelsohne wichtige
Aspekt, der trotz seiner ĂŒber lange Strecken des Romans anhaltenden gerin-
geren Sichtbarkeit genauso zur âgenerativen Formelâ Ulrichs gehört, wird im
Kontext seines Zusammenlebens mit der wiedergefundenen Schwester noch
genauer zu beleuchten sein.154 Bereits an dieser Stelle bleibt jedoch zumindest
zu erwÀhnen, dass die wÀhrend des Ersten Buchs vorherrschende VerdrÀn-
gung der affektiven, âweiblichenâ Seite Ulrichs habituell mit dem frĂŒhen Verlust
seiner Mutter motiviert werden kann sowie mit seiner Erziehung in Instituten,
welche von der patriarchalen Gesellschaft mit jener âgenuin geschichtlichen
Konstruktionsarbeitâ betraut sind, âdie den Jungen von der Welt der Frau ab-
lösen sollâ.155 Der âbedingungslose[n] Zustimmung zur Ordnung der Dingeâ
durch den Vater wird von den AutoritÀtspersonen des heranwachsenden Ul-
rich somit nicht nur keine âdem vĂ€terlichen Verdiktâ zuwiderlaufende âBe-
streitung der Notwendigkeitâ und keine âBekrĂ€ftigung der Kontingenzâ ent-
gegengesetzt, wie das etwa in Virginia Woolfs Roman To the Lighthouse seitens
der Mutter der Fall ist, sondern eben auch keine komplementÀre Erfahrung
mĂŒtterlicher Liebe, die auf dem âGesetz des Wunsches und der Lustâ basieren
153 Vgl. Gödicke : Donjuanismus im Mann ohne Eigenschaften, S. 40â42.
154 Vgl. dazu Kap. II.3.1.
155 Bourdieu : Die mÀnnliche Herrschaft, S. 97.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208