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383âZeitfigurenâ
1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ
Von entscheidender Bedeutung fĂŒr die soziale Logik des Romans ist aller-
dings, wie Walter mit der sich in seiner kĂŒnstlerischen UnproduktivitĂ€t Ă€u-
Ăernden âEigenschaftslosigkeitâ umgeht ; der kommentierende ErzĂ€hler entwi-
ckelt hier eine schonungslose Analyse :
Er hatte hundert verschiedene GrĂŒnde dafĂŒr. Im ganzen begannen sich aber auch
seine Anschauungen in dieser Zeit auffallend zu verÀndern. Er sprach nicht mehr von
âZeitkunstâ und âZukunftskunstâ, Vorstellungen, die fĂŒr Clarisse seit ihrem fĂŒnfzehnten
Jahre mit ihm verbunden waren, sondern zog irgendwo einen Strich â in der Musik
etwa bei Bach, in der Dichtung bei Stifter, in der Malerei bei Ingres abschlieĂend â
und erklĂ€rte, daĂ alles, was spĂ€ter gekommen sei, ĂŒberladen, entartet, ĂŒberspitzt und
abwĂ€rtsgerichtet wĂ€re [âŠ]. (MoE 52)
Die eindeutig kompensatorische Funktion dieser eigenwilligen Selbstlegiti-
mation Walters erhellt aus der bezeichnenden Korrespondenz zwischen dem
Ausbleiben der von ihm erhofften kĂŒnstlerischen ProduktivitĂ€t und der suk-
zessiven VerĂ€nderung seiner Ă€sthetischen Anschauungen bzw. â in Bourdieus
Worten â aus der Homologie zwischen seiner prekĂ€ren sozialen Stellung und
seiner intellektuellen Stellungnahme. Der sozialpsychologisch versierte Er-
zĂ€hler arbeitet diesen Konnex deutlich heraus : â[E]s geschah immer heftiger,
daĂ [Walt]er behauptete, in einer derart in ihren geistigen Wurzeln vergifteten
Zeit, wie es die gegenwĂ€rtige sei, mĂŒsse sich eine reine Begabung der Schöp-
fung ĂŒberhaupt enthalten.â (MoE 52) Walter, der sich mit solchen Worten
trotz seines Scheiterns als âreine Begabungâ inszeniert, verfĂ€llt zunehmend
einer fundamentalen LĂ€cherlichkeit, die ĂŒber den individuellen Fall hinaus
allerdings durchaus zeitdiagnostischen Wert beansprucht. Er selbst ist sich
dieses Sachverhalts freilich nicht bewusst. Damit aber nicht auch die Leser
darĂŒber hinwegsehen, folgt der ideologiekritische Kommentar des ErzĂ€hlers
unmittelbar auf dem FuĂ :
[D]as VerrÀterische war, obgleich solche strenge Meinung aus seinem Munde kam,
daà aus seinem Zimmer, sobald er sich einsperrte, immer öfter die KlÀnge Wagners
zu dringen begannen, das heiĂt einer Musik, die er Clarisse in frĂŒheren Jahren als das
Musterbeispiel einer philiströs ĂŒberladenen, entarteten Zeit verachten gelehrt hatte,
der er aber jetzt selbst wie einem dick gebrauten, heiĂen, betĂ€ubenden GetrĂ€nk erlag.
(MoE 52)
Mit Formulierungen wie âdas VerrĂ€terische warâ bezieht die kommentierende
ErzĂ€hlstimme Musils im Unterschied etwa zum zurĂŒckhaltenden ErzĂ€hlen
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208